Das Gesicht des Fremden
dem festen Entschluß, das frühere Leben soweit wie möglich wiederaufzunehmen. Der jüngste Sohn einer vornehmen Familie, ein Mann mit wenig Geld und viel Charme sowie einer gehörigen Portion Courage.
Kaum jemand, der sich Feinde geschaffen hatte, indem er anderen übel mitspielte. Aber man mußte nicht mit übermäßiger Phantasie ausgestattet sein, um auf den Gedanken zu kommen, daß er Neid und Mißgunst hervorgerufen haben könnte, die stark genug waren, in Mord zu eskalieren. Alles dazu Erforderliche hatte seine Wurzeln vielleicht in diesem entzückenden Raum mit den gewirkten Tapeten und dem Blick auf die Parklandschaft.
»Meinen aufrichtigen Dank, Lady Shelburne«, sagte Monk förmlich. »Durch Sie habe ich jetzt ein wesentlich klareres Bild von Major Grey. Sie haben mir sehr geholfen.« Dann wandte er sich an Lovel: »Vielen Dank, Mylord. Wenn ich nun mit Mr. Menard Grey sprechen dürfte –«
»Der ist nicht da«, erwiderte Lovel schroff. »Er ist bei einem der Pächter. Es hat keinen Zweck, wenn Sie sich hier noch länger aufhalten. Außerdem ist es Ihre Aufgabe, Joscelins Mörder zu finden, nicht einen Nachruf zu schreiben!«
»Der Nachruf ist meiner Meinung nach erst fertig, wenn der Fall aufgeklärt ist«, gab Monk zurück, während er Grey gerade und herausfordernd in die Augen sah.
»Worauf warten Sie dann noch?« fuhr Lovel ihn aufgebracht an. »Gehen Sie und tun Sie etwas Nützliches, anstatt sich hier die Sonne auf den Pelz scheinen zu lassen!«
Monk machte sich wortlos auf den Weg und zog die Salontür ohne besondere Sanftheit hinter sich zu. In der Halle wurde er von einem diskret herumstehenden Lakai erwartet, der ihn offenbar hinausbegleiten sollte – oder aber den Auftrag hatte, aufzupassen, daß Monk nicht das silberne Kartentablett oder den Brieföffner mit dem Ebenholzgriff verschwinden ließ.
Das Wetter hatte sich geändert. Wie aus dem Nichts waren schwere Gewitterwolken aufgezogen, und als er aus dem Haus trat, klatschten bereits die ersten dicken Tropfen auf die Erde.
Monk stapfte die Auffahrt hinab in Richtung Tor durch den reinigenden Regenguß, da kreuzte das nächste Mitglied der Familie Grey seinen Weg. Flotten Schrittes eilte ihm eine ältere Frau entgegen. An Alter und Kleidung glich sie Fabia Shelburne, nur fehlte ihr deren kalte Schönheit. Die Nase war länger, das Haar widerspenstiger – sie war vermutlich nie schön gewesen, auch nicht vor vierzig Jahren.
»Guten Tag.« Zur Bezeugung seiner Ehrerbietung lüftete Monk kurz den Hut.
Sie hielt inne und musterte ihn neugierig. »Guten Tag. Ich kenne Sie nicht. Was tun Sie hier? Haben Sie sich verlaufen?«
»Nein, trotzdem vielen Dank, Ma’am. Ich bin von der Metropolitan Police und habe über unsere Fortschritte bezüglich des Mordes an Major Grey Bericht erstattet.«
Sie kniff die Augen zusammen, und er war sich nicht im klaren, ob der Grund dafür Belustigung oder etwas anderes war.
»Für jemand, der Nachrichten überbringt, scheinen Sie recht gut etabliert zu sein, junger Mann. Sie waren bei Fabia, nehme ich an?«
Da Monk keine Ahnung hatte, wer sie war, wußte er nicht, wie er sie ansprechen sollte.
Sie begriff sofort.
»Ich bin Callandra Daviot; der letzte Lord Shelburne war mein Bruder.«
»Dann war Major Grey Ihr Neffe, Lady Callandra?« Erst nachdem die Worte ausgesprochen waren, kam ihm zu Bewußtsein, daß er ihren Titel vollkommen korrekt und ohne nachzudenken benutzt hatte.
»Zwangsläufig«, bestätigte sie. »Ich wüßte nicht, was Ihnen das weiterhelfen könnte.«
»Sie müssen ihn gekannt haben.«
Ihre ziemlich struppigen Augenbrauen hoben sich ein wenig.
»In der Tat. Wahrscheinlich sogar ein bißchen besser als Fabia. Warum?«
»Standen Sie ihm nahe?« fragte er rasch.
»Im Gegenteil, ich hielt mich stets in einiger Entfernung.« Dieses Mal war Monk sicher, daß aus ihren Augen trockener Humor blitzte.
»Und haben um so klarer gesehen?« spann er ihre Andeutung weiter.
»Schon möglich. Bestehen Sie darauf, mich hier unter den Bäumen auszuhorchen, junger Mann? Ich werde allmählich naß.«
Monk schüttelte den Kopf und wandte sich um, um sie denselben Weg zurückzubegleiten, den er soeben gekommen war.
»Ein Jammer, daß Joscelin umgebracht wurde«, fuhr sie fort.
»Es wäre viel besser gewesen, wenn er die letzte Ruhe in Sewastopol gefunden hätte – für Fabia sowieso. Aber was wollen Sie von mir? Ich war nicht besonders verrückt nach Joscelin – was durchaus auf
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