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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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behandelte ihn mit ehrfürchtigem Respekt, und alle waren genauso erpicht darauf, den Mörder ihres Helden zu finden, wie er selbst.
    Das Mittagessen nahm er in der Schankstube zu sich, in Gesellschaft einiger bedeutender hiesiger Persönlichkeiten, und schaffte es tatsächlich, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. In dem hellen Sonnenlicht, das durch die offene Tür strömte, begannen sich die Zungen bei Apfelwein, Apfelkuchen und Käse schon bald zu lösen. Monk wurde miteinbezogen, und es dauerte nicht lang, da gingen die Pferde mit ihm durch, und er gab geistreiche, ironische und witzige Bemerkungen zum besten. Erst auf dem Rückweg wurde ihm klar, daß sie stellenweise auch unverschämt geklungen haben mußten.
    Am frühen Nachmittag brach er auf, um von dem winzigen, verschlafenen Bahnhof aus die polternde, dampfzischende Rückreise nach London anzutreten.
    Kurz nach vier kam er dort an und fuhr mit einem Hansom schnurstracks zum Polizeirevier.
    »Und?« drängelte Runcorn mit gezückten Brauen. »Haben Sie’s fertiggebracht, Ihre Ladyschaft einzulullen? Ich darf wohl davon ausgehen, daß Sie sich wie ein Gentleman benommen haben?«
    Wieder hörte Monk diese gewisse Schärfe und anklingende Antipathie aus seiner Stimme heraus. Was hatte er dem Mann bloß getan? Er versuchte verzweifelt, sich an etwas zu erinnern, das Runcorns Abneigung rechtfertigen konnte. Sein schroffes Benehmen konnte nicht der einzige Grund dafür sein, oder war er tatsächlich so dumm gewesen, sich mit einem Vorgesetzten anzulegen? Er mußte es herausfinden, denn es spielte eine große, beinah lebenswichtige Rolle: Runcorn hielt den Schlüssel zu seiner Beschäftigung in der Hand, dem einzig sicheren Bestandteil seines augenblicklichen Lebens. Ohne Arbeit wäre er nicht nur absolut identitätslos, sondern binnen weniger Wochen auch vollkommen verarmt, und dann wäre ihm das gleiche traurige Schicksal beschieden wie jedem armen Schlucker: die Bettelei mit dem allzeit drohenden Hungertod oder die Gefahr, wegen Landstreicherei ins Gefängnis geworfen zu werden, oder das Armenhaus; und es gab weiß Gott so manchen, der das Armenhaus für das größere Übel hielt.
    »Ich denke, Ihre Ladyschaft hat begriffen, daß wir alles menschenmögliche tun«, erwiderte er. »Und daß wir zuerst den nächstliegenden Möglichkeiten auf den Grund gehen mußten – wie zum Beispiel der Einbrechertheorie. Sie hat Verständnis dafür, daß wir inzwischen auch jemand aus Greys Bekanntenkreis als Mörder in Betracht ziehen.«
    Runcorn stöhnte. »Sie haben Sie nach ihm ausgefragt, stimmt’s? Was für ein Knabe er war und so?«
    »Ja, Sir. Sie war verständlicherweise voreingenommen –«
    »Verständlicherweise«, pflichtete Runcorn ihm säuerlich bei, während seine Brauen von neuem hochzuckten. »Sie sollten allerdings schlau genug sein, das zu durchschauen.«
    Monk überhörte die Anspielung. »Er schien ihr Lieblingssohn gewesen zu sein – und mit Abstand der liebenswerteste. Darüber waren alle einer Meinung, sogar im Dorf; abzüglich derer, die sich weigern, schlecht über die Toten zu sprechen.« Er grinste verzerrt. »Oder über den Sohn aus dem großen Haus! Wie auch immer, zurück bleibt jedenfalls ein Mann mit schier unerträglichem Charme, einer ausgezeichneten Laufbahn beim Militär und ohne besondere Laster oder Schwächen, wenn man einmal davon absieht, daß er bisweilen Schwierigkeiten hatte, mit dem familiären Zuschuß auszukommen, gelegentlich ein wenig aufbrauste und dann und wann seinen spöttischen Witz versprühte. Dafür war er um so spendabler, merkte sich die Geburtstage und Namen der Dienerschaft – und verstand es, die Leute zu unterhalten. Allmählich sieht es ganz so aus, als ob Eifersucht im Spiel sein könnte.«
    Runcorn seufzte.
    »Brenzlig, brenzlig«, verkündete er entschieden, das linke Auge bis auf einen Spalt geschlossen. »Misch dich niemals in Familienangelegenheiten, denn je höher du kommst, desto widerlicher wird’s!« Er zupfte geistesabwesend an seinem Mantel, wenn dieser deshalb auch nicht die Spur besser saß.
    »Bitte, da haben Sie Ihre große Welt; können ihre Spuren besser verwischen als jeder von Ihren Durchschnittsganoven, auch wenn die sich noch soviel Mühe geben. Macht zwar nicht oft einen Fehler, dieses Pack, aber wenn – dann gnade einem Gott!« Sein Finger stieß ruckartig in die Luft und zeigte auf Monk. »Ich gebe Ihnen mein Wort drauf, falls da wirklich was nicht stimmt, wird’s erst noch viel

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