Das Gesicht des Fremden
Shelburne saß mit einem Stickrahmen in der Hand auf einer mit Brokat bezogenen Chaiselongue. Bei ihrem Eintreten hob sie den Kopf. Auf den ersten Blick sah Lovel Greys Frau ihrer Schwiegermutter nicht unähnlich: Sie war ebenso blond, hatte die gleiche hohe Stirn, die gleiche Augenform – nur waren ihre Augen dunkelbraun und das harmonische Verhältnis ihrer Gesichtszüge anders gelagert; es war ein resolutes, aber nicht hartes Gesicht, das Humor und viel Phantasie verriet, die nur darauf wartete, sich austoben zu dürfen. Sie war so schmucklos gekleidet, wie es sich für jemand schickte, der vor kurzem den Schwager verloren hatte, obwohl ihr weiter Rock nur die Farbe von roten Trauben hatte, die im Schatten standen, und lediglich die Perlen ihres Rosenkranzes schwarz waren.
»Entschuldige die Störung, Liebes«, meinte Shelburne mit einem spitzen Seitenblick auf Monk, »aber hier ist jemand von der Polizei, der glaubt, du könntest ihm vielleicht etwas Hilfreiches über Joscelin sagen.« Er ging an ihr vorbei zum Fenster und schaute blinzelnd gegen das Sonnenlicht auf den Rasen hinaus.
Rosamonds helle Haut färbte sich schwach rosa; sie mied Monks Blick.
»Wirklich?« fragte sie höflich. »Ich weiß nur sehr wenig über Joscelins Leben in London, Mr. –?«
»Monk, Ma’am. Soviel ich weiß, mochte Major Grey Sie recht gern, also hat er Ihnen gegenüber vielleicht irgendwann einmal einen Freund oder Bekannten erwähnt, der uns seinerseits einen Hinweis geben könnte, verstehen Sie?«
»Oh.« Sie ließ die Stickerei sinken; es handelte sich um einen Text inmitten eines Flechtwerks aus Rosen. »Selbstverständlich. Ich fürchte allerdings, mir fällt nichts dergleichen ein. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, ich will gern versuchen, Ihnen so gut wie möglich zu helfen.«
Monk nahm das Angebot an und begann ihr auf liebenswürdige Weise Fragen zu stellen. Er glaubte nicht, auf direktem Wege viel von ihr zu erfahren, aber er beobachtete sie unauffällig, lauschte auf Veränderungen in ihrem Tonfall und gab auf die Bewegungen ihrer Finger acht, die sie im Schoß ineinander verschlungen hatte.
Allmählich bekam er ein Bild von Joscelin Grey.
»Er wirkte sehr jung auf mich, als ich nach der Heirat hierherkam«, sagte Rosamond lächelnd, den Blick an Monk vorbei aus dem Fenster gerichtet. »Das war natürlich, bevor er an die Krim ging. Offizier war er damals; er hatte gerade erst das Offizierspatent erworben und war so…« – sie suchte nach dem richtigen Wort – »so unbeschwert! Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als er hier in seinen glänzenden Stiefeln und dem scharlachroten Uniformrock mit den goldenen Tressen hereinmarschiert kam. Man mußte sich einfach mit ihm freuen.« Ihre Stimme wurde leise. »Zu der Zeit hielten wir das alles noch für ein großes Abenteuer.«
»Und später?« fragte Monk prompt. Er beobachtete die zarten Schatten auf ihrem Gesicht, verfolgte, wie sie nach etwas forschte, das sie geahnt, jedoch nicht verstanden hatte.
»Er wurde verwundet – wissen Sie das?« Rosamond schaute ihn stirnrunzelnd an.
»Ja.«
»Zweimal, und obendrein schwer.« Sie versuchte seinem Blick zu entnehmen, ob er mehr wußte als sie. »Er hat viel durchgemacht. Bei der Schlacht von Balaklawa wurde er von seinem Pferd abgeworfen, und in Sewastopol holte er sich eine tiefe Schwertwunde am Bein. Über die Zeit im Krankenhaus von Skutari sprach er nicht gern; er meinte, es wäre zu furchtbar, um wiedergegeben zu werden, und würde uns nur aufregen.« Die Stickerei glitt auf dem glatten Stoff ihres Rocks ab und fiel auf den Boden. Sie machte sich nicht die Mühe, sie aufzuheben.
»Er hatte sich verändert?« fragte Monk rasch.
Rosamond lächelte traurig. Sie hatte einen hübschen Mund, weicher und empfindsamer als der ihrer Schwiegermutter. »Ja – aber seinen Sinn für Humor hatte er nicht verloren, er konnte nach wie vor lachen und sich an schönen Dingen freuen. Zu meinem Geburtstag schenkte er mir eine Spieldose.« Ihr Lächeln wurde bei dem Gedanken daran breiter. »Sie hat einen Emailledeckel, auf den eine Rose gemalt ist. Die Melodie heißt ›Für Elise‹- Beethoven, müssen Sie wissen…«
»Also wirklich, meine Liebe!« Lovels Stimme schnitt ihr brutal das Wort ab, während er sich kurz auf seinem Standort am Fenster herumdrehte. »Der Mann ist hier, weil er Nachforschungen für die Polizei betreibt. Er schert sich nicht um Beethoven oder Joscelins Spieldose. Versuche doch bitte, dich
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