Das Gesicht des Fremden
Gegenseitigkeit beruhte. Ich habe weder eine Ahnung, was er die ganze Zeit getrieben hat, noch irgendwelche Mutmaßungen, wer ihm ein derart furchtbares Ende gewünscht haben könnte.«
»Sie mochten ihn nicht besonders?« hakte Monk verblüfft nach. »Bis jetzt hat jeder nur so von seinem Charme geschwärmt.«
»O ja, davon besaß er jede Menge«, bestätigte sie, während sie mit langen Schritten nicht etwa auf den Haupteingang des Hauses zusteuerte, sondern in einen Schotterweg einbog, der zu den Stallungen führte. »Ich schere mich nicht allzuviel um Charme.« Lady Callandra schaute ihm gerade ins Gesicht, und er stellte fest, daß ihm ihre spröde Direktheit immer besser gefiel. »Vielleicht weil er mir nie beschieden war, aber charmante Leute wirken auf mich wie Chamäleons, und ich kann nie sicher sein, welche Farbe das Tier darunter tatsächlich hat. Würden Sie nun bitte ins Haus zurückgehen oder wo immer Sie hinwollten? Ich habe nicht die geringste Lust, noch nasser zu werden, als ich bereits bin, und es wird garantiert gleich wieder regnen. Es ist doch vollkommen zwecklos, hier draußen vor den Ställen herumzustehen und höflichen Unsinn zu reden, der Ihnen ganz bestimmt nicht weiterhelfen kann.«
Monk lächelte breit und neigte zum Abschied leicht den Kopf. Lady Callandra war der einzige Mensch in Shelburne Hall, der ihm spontan sympathisch war.
»Schon unterwegs, Ma’am. Vielen Dank für Ihre« – er zögerte, denn er wollte nicht zu direkt sein und Offenheit sagen – »Zeit. Einen schönen Tag noch.«
Sie warf ihm einen sarkastischen Blick zu, nickte leicht und marschierte geradewegs in den Raum mit dem Pferdegeschirr, wo sie lautstark nach dem ersten Stallburschen verlangte.
Monk ging zum zweitenmal die Auffahrt hinunter – wie befürchtet durch einen kräftigen Schauer – und ließ das Tor nun endgültig hinter sich. Er folgte der Straße die viereinhalb Kilometer bis zum Dorf. Die vom Regen reingewaschene Landschaft um ihn herum glänzte im Licht der wieder durchbrechenden Sonne; gierig nahm er den Anblick der unbeschreiblich schönen Gegend in sich auf, als hätte er Angst, sie für immer aus dem Gedächtnis zu verlieren, sobald sie einmal außer Sicht war. Hier und da hob sich ein schimmerndes, dunkelgrünes Baumgrüppchen als bauschige Silhouette über der sanft wogenden Grasflut gegen den Himmel ab, jenseits der steinernen Mauern der Dorfhäuser ergossen sich tiefgoldene Weizenfelder, deren schwere Ähren sich wie Wellen im Wind wiegten.
Während dieses erbaulichen Spaziergangs, der etwas weniger als eine Stunde dauerte, fand Monk die innere Ruhe wieder, seine Gedanken von der lediglich vorübergehend wichtigen Frage, wer Joscelin Grey ermordet hatte, loszureißen und sich dem prekären Thema seiner eigenen Vergangenheit zuzuwenden. Hier kannte ihn niemand; wenigstens einen Abend lang würde er in der Lage sein, ganz neu anzufangen, keine vorangegangene Tat konnte ihn dabei behindern – oder ihm helfen. Vielleicht gelang es ihm ja, etwas über sein Inneres zu erfahren, wenn sämtliche Erwartungen wegfielen.
Er verbrachte die Nacht im Dorfgasthaus und erkundigte sich dort am kommenden Morgen unauffällig über gewisse Lokalgrößen, woraufhin er seinem Bild von Joscelin Grey zwar keine bedeutsamen neuen Details hinzufügen konnte, jedoch herausfand, daß seinen beiden Brüdern beträchtlicher Respekt gezollt wurde, jedem auf seine Weise. Beliebt waren sie nicht – dazu waren ihr Stand und Lebensstil einfach zu anders –, aber man verließ sich auf sie. Sie entsprachen haargenau der Vorstellung, die man sich von Leuten ihresgleichen machte; man registrierte sorgsam jede kleine Gefälligkeit und achtete darauf, daß eine Art wechselseitiger Ehrenkodex eingehalten wurde.
Mit Joscelin verhielt es sich anders, bei ihm war eine gewisse Sympathie nicht ausgeschlossen. Laut einhelliger Meinung war er mehr als nur höflich gewesen; man erinnerte sich an seine enorme Freigebigkeit, die mit seinem Status als Sproß des Hauses Shelburne gerade noch vereinbar gewesen war. Sollte jemand etwas anderes gedacht oder gefühlt haben, er hätte es einem Fremdling wie Monk niemals auf die Nase gebunden. Außerdem war Joscelin bei der Armee gewesen, und eine gewisse Ehrerbietung stand den Toten zu!
Monk genoß es unendlich, einmal umgänglich, ja sogar freundlich sein zu dürfen. Niemand fürchtete sich vor ihm – obschon man ihn im Auge behielt, er war schließlich ein Peeler –, keiner
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