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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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grüblerische, intellektuelle Mädchen, das er von früher kannte, nur so hatte verändern können – zudem fiel ihm beim besten Willen kein respektabler, potentieller Heiratskandidat für sie ein. Die Vorstellung, für den Rest seines Lebens mit ihr unter einem Dach zu wohnen, war ihm unerträglich.
    Es war auch für Hester keine erbauliche Aussicht, und sie hatte nicht vor, es soweit kommen zu lassen. Sie würde bleiben, solange Imogen sie brauchte, dann konnte sie sich immer noch Gedanken über ihre Zukunft machen.
    Während sie jetzt neben ihrer Schwägerin in der Kutsche saß und sie über die staubigen Straßen holperten, wuchs in ihr plötzlich die feste Überzeugung, daß Imogen sich große Sorgen machte, und zwar wegen einer Sache, die sie weder Charles noch ihr anvertrauen wollte. Es mußte mehr dahinterstecken als Kummer; es war etwas, das nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit der Zukunft zusammenhing.

5
    Monk und Evan sagten Grimwade nur flüchtig guten Tag und begaben sich direkt nach oben zu Yeats. Es war gerade acht Uhr vorbei; sie hofften, ihn beim Frühstück, wenn möglich noch davor zu erwischen.
    Yeats öffnete ihnen die Tür selbst. Er war ein kleiner, leicht rundlicher Mann um die Vierzig mit sanftem Gesicht und schütterem Haar, das ihm in die Stirn fiel. In der Hand hielt er eine mit Orangenkonfitüre bestrichene Toastscheibe. Er machte einen recht erschrockenen Eindruck; bei Monks Anblick schien eine Alarmglocke in ihm anzuschlagen.
    »Guten Morgen, Mr. Yeats«, sagte dieser ruhig. »Wir sind von der Polizei und möchten uns noch einmal mit Ihnen über den Mord an Major Grey unterhalten. Dürfen wir bitte hereinkommen?« Er machte keinerlei Anstalten, es von sich aus zu tun, doch seine Größe schien Yeats einzuschüchtern, was er bewußt ausspielte.
    »Jja, sssicher«, stammelte Yeats im Zurückweichen. »Aber ich versichere Ihnen, ich weiß nichts, das ich nnicht schon erzählt hätte. Zwar nicht Ihnen, aaaber einem Mr. Lamb, der –«
    »Ich weiß.« Monk folgte ihm in die Wohnung. Er war sich seines schikanösen Benehmens bewußt, konnte und wollte es sich jedoch nicht leisten, allzu großes Zartgefühl an den Tag zu legen. Immerhin hatte Yeats dem Mörder direkt gegenübergestanden und ihm höchstwahrscheinlich bei seinem Verdunklungsmanöver geholfen, ob nun wissentlich oder nicht.
    »Uns liegen allerdings einige neue Fakten vor, seit Mr. Lamb krank geworden ist und ich den Fall übernommen habe.«
    »So?« Yeats ließ den Toast fallen und hob ihn wieder auf, ohne sich um die Marmelade auf dem Teppich zu kümmern. Das Wohnzimmer war kleiner als Greys und wirkte durch die massiven Eichenmöbel überladen. Überall standen gerahmte Fotografien auf bestickten Deckchen. Beide Sessel steckten unter Schonbezügen.
    »Was –?« begann Yeats nervös. »Tatsächlich? Ich kann mir nicht vorstellen, daß ich Ihnen irgendwie helfen kann, um – um… äh –«
    »Vielleicht wären Sie so freundlich, uns ein paar Fragen zu beantworten, Mr. Yeats«, sagte Monk beschwichtigend. Der Mann durfte auf keinen Fall derart in Angst und Schrecken geraten, daß er zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war.
    »Tja – wenn Sie meinen… Natürlich, ja – gern.« Er machte einige Schritte rückwärts und ließ sich auf der äußersten Kante des Sessels nieder, der dem Tisch am nächsten stand.
    Monk setzte sich ebenfalls und registrierte, daß Evan das gleiche tat und es sich auf einem an der Wand stehenden Stuhl bequem machte. Er fragte sich flüchtig, was Evan von ihm halten mochte, ob er ihn zu grob fand, zu sehr von seinem Ehrgeiz, von seiner Sucht nach Erfolg bestimmt. Yeats konnte leicht genau das sein, nach dem er aussah – ein verängstigtes Männchen, das nur aus Pech zur Schlüsselfigur in einem Mordfall avanciert war.
    Monk beschloß, sanfter mit ihm umzuspringen, und überlegte mit einem Anflug von Selbstironie, daß sein gemäßigter Ton möglicherweise gar nicht dazu dienen sollte, Yeats zu beruhigen, sondern bei Evan Lorbeeren zu ernten. Was hatte ihn bloß in so große Isolation getrieben, daß Evans Meinung ihm derart wichtig war? War er so darin aufgegangen, aufzusteigen, sein Wissen zu erweitern, sein Image zu polieren, daß kein Raum mehr für Freundschaften geblieben war?
    Yeats beäugte ihn wie ein Kaninchen, das einen Marder gesehen hat; er saß vor Furcht wie versteinert da.
    »Sie hatten am fraglichen Abend Besuch«, erinnerte Monk ihn relativ freundlich. »Um wen

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