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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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überrascht Sie?« erkundigte sich Monk seinerseits verwundert.
    Yeats schnappte sprachlos nach Luft.
    »Haben Sie den Mann bestimmt nicht gekannt?« beharrte Monk, der ihm nicht die Möglichkeit geben wollte, sich wieder in den Griff zu bekommen. Es war genau der richtige Zeitpunkt, Yeats ein wenig unter Druck zu setzen.
    »Aber nein. Ganz sicher nicht!« Er schlug die Hände vors Gesichts. »Gütiger Himmel!«
    Monk betrachtete Yeats verdrossen. Der Mann war zu nichts mehr zu gebrauchen, entweder war er das Entsetzen in Person oder er gab ungemein geschickt vor, es zu sein. Er drehte sich nach Evan um. Dessen Gesicht war vor Verlegenheit völlig starr; wahrscheinlich schämte er sich wegen ihrer Anwesenheit und ihres Schuldanteils an dem Elend des kleinen Mannes – vielleicht auch nur, weil er Zeuge eines Zusammenbruchs war.
    Monk erhob sich; seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Er wußte, daß er das Risiko einging, einen Fehler zu machen, und er wußte ebenfalls, daß er es um Evans willen tat.
    »Ich danke Ihnen, Mr. Yeats. Es tut mir leid, daß ich Sie derart quälen muß. Nur eine letzte Frage noch: Hatte der Mann einen Spazierstock bei sich?«
    Yeats hob den Kopf; sein Gesicht war leichenblaß, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.
    »Ja, einen recht stattlichen, deshalb ist er mir aufgefallen.«
    »Leicht oder schwer?«
    »Schwer – sehr schwer. O nein!« Er schloß rasch die Augen, als könne er dadurch der schrecklichen Vision entgehen, die auf ihn einstürmte.
    »Sie brauchen keine Angst zu haben, Mr. Yeats«, ließ sich Evan aus dem Hintergrund vernehmen. »Unsrer Ansicht nach war es jemand, der Major Grey kannte, kein hergelaufener Geistesgestörter. Es gibt nicht den geringsten Grund für die Annahme, daß er Ihnen etwas tun wollte. Ich bin überzeugt, er wollte zu Major Grey und hat sich tatsächlich in der Tür geirrt.«
    Erst draußen auf der Straße wurde Monk klar, daß Evan diese Worte ausschließlich gesagt hatte, um den armen Mann zu beruhigen, denn es konnte unmöglich stimmen. Der Fremde hatte sich beim Portier ausdrücklich nach Yeats erkundigt. Monk warf seinem Kollegen, der schweigsam an seiner Seite durch den Nieselregen schritt, einen kurzen Blick zu und äußerte sich nicht weiter zu dem Thema.
    Grimwade war auch keine Hilfe, da er den Mann weder hatte herunterkommen sehen, nachdem er bei Yeats gewesen war, noch bezeugen konnte, daß er tatsächlich zu Grey ging. Er hatte die Gelegenheit genutzt, dem Ruf der Natur zu folgen, und erst gegen halb elf, eine Dreiviertelstunde später, beobachtet, wie Yeats’ vermeintlicher Gast das Haus verließ.
    »Es gibt nur eine logische Erklärung«, meinte Evans bedrückt, während er mit gesenktem Kopf vor sich hin stapfte.
    »Der Kerl muß von Yeats’ Tür schnurstracks zu Greys Wohnung gegangen sein, hat sich etwa eine halbe Stunde bei ihm aufgehalten, ihn dann getötet und ist vor Grimwades Augen verschwunden.«
    »Was uns immer noch nicht verrät, wer er war«, sagte Monk. Er wich einer Pfütze aus und kam dadurch dicht an einem Krüppel vorbei, der Schnürsenkel feilbot. Ein Lumpensammlerkarren wälzte sich an ihnen vorbei, dessen Fahrer die Umwelt in nahezu unverständlichem Singsang auf seine Anwesenheit hinwies. »Ich komme immer zum selben Punkt zurück«, nahm Monk den Faden wieder auf, als es einigermaßen ruhig war. »Was kann der Grund für den enormen Haß auf Joscelin Grey gewesen sein? Die Atmosphäre in seinem Wohnzimmer war voll davon. Irgend jemand wurde dermaßen von seinem Haß beherrscht, daß er noch auf ihn eindrosch, als er längst tot war.«
    Evan schauderte; der Regen lief ihm an Nase und Kinn hinab. Mit blassem Gesicht zog er den Mantelkragen bis über die Ohren hoch.
    »Mr. Runcorn hatte recht«, stellte er unglücklich fest. »Diese Geschichte ist wirklich brenzlig. Man muß jemand gut kennen, um ihn derart zu verabscheuen.«
    »Oder tödlich gekränkt worden sein«, fügte Monk hinzu.
    »Aber wahrscheinlich trifft Ihre Vermutung zu. Die Wurzeln des Ganzen werden in der Familie liegen, das ist meistens so. Entweder das oder Grey hatte mit irgendwem ein Verhältnis.«
    Evan starrte ihn entgeistert an. »Sie meinen, Grey war –«
    »Nein.« Monk verzog den Mund zu einem sarkastischen Lächeln. »Das habe ich nicht gemeint, obwohl es natürlich möglich ist – gut möglich sogar. Ich dachte allerdings eher an eine Frau, eventuell mit Ehemann.«
    Evans Gesicht entspannte sich geringfügig.
    »Etwas so Simples

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