Das Gesicht des Fremden
Monk entdeckt. »Ich bitte um Verzeihung. Ich wußte nicht, daß jemand bei Ihnen ist.«
»Das ist Mr. Monk«, klärte sie ihn auf, »von der Polizei. Er war so freundlich, uns nach Papas – Tod – zu helfen.«
Der Pfarrer musterte Monk mit mißbilligendem Blick.
»Soso. Mein liebes Kind, ich denke wirklich, es wäre für jeden von uns besser, wenn Sie die Sache auf sich beruhen lassen könnten. Die Trauerzeit sollen Sie natürlich einhalten, aber lassen Sie Ihren armen Schwiegervater doch in Frieden ruhen.« Er malte geistesabwesend das Kreuzzeichen in die Luft.
»Jawohl – in Frieden.«
Monk trat aus der Bank. Mrs. Latterly! Sie war also verheiratet oder verwitwet? Halt, das ging nun wirklich zu weit!
»Falls ich noch etwas herausfinden sollte, Mrs. Latterly« – seine Stimme klang angespannt, fast erstickt – »möchten Sie darüber informiert werden?« Er wollte sie nicht verlieren, wollte verhindern, daß sie spurlos in der Vergangenheit verschwand. Wahrscheinlich fand er nicht das geringste heraus, aber er mußte wissen, wo sie lebte, mußte einen Grund haben, sie wiedersehen zu dürfen.
Sie schaute ihn einen langen Augenblick unschlüssig an. In ihrem Innern schien ein Kampf stattzufinden, und sie sagte schließlich vorsichtig: »Ja bitte, das wäre sehr nett, aber vergessen Sie Ihr Versprechen nicht.« Dann drehte sie sich schwungvoll um, wobei ihre Röcke seine Füße streiften. »Gute Nacht, Herr Pfarrer. Komm, Hester, es wird Zeit, nach Hause zu gehen; Charles erwartet uns zum Dinner.« Sie ging langsam auf die Tür zu. Monk blickte ihr nach, wie sie die Kirche Arm in Arm mit der anderen Frau verließ. Es kam ihm so vor, als nähme sie alles Licht mit.
Draußen in der kühlen Abendluft drehte sich Hester Latterly zu ihrer Schwägerin um.
»Ich finde, du schuldest mir langsam eine Erklärung, Imogen«, meinte sie ruhig, jedoch mit einem Quentchen Nachdruck in der Stimme. »Also, wer ist dieser Mann?«
»Er gehört zur Polizei«, erwiderte Imogen, während sie energisch auf die Kutsche zuschritt, die am Bordsteinrand wartete. Der Kutscher stieg ab, hielt ihnen die Tür auf und half erst ihr, dann Hester hinein. Beide ließen sich wortlos auf der Sitzbank nieder, wobei Hester ihre Röcke in Ordnung brachte, damit sie es bequemer hatte, Imogen, damit der feine Stoff nicht zerknitterte.
»Was soll das heißen, ›gehört zur Polizei‹?« fragte Hester ungehalten, als sich die Kutsche in Bewegung setzte. »Man ›gehört‹ nicht zur Polizei. So wie du es sagst, klingt es ja direkt wie ein gesellschaftliches Ereignis! ›Miss Smith gehört heute abend zu Mr. Jones.‹«
»Nun sei nicht pedantisch«, beschwerte sich Imogen. »Man sagt sogar über ein Dienstmädchen: ›Tilly gehört momentan zu den Robinsons!‹«
Hesters Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ach! Und spielt dieser Herr momentan den Lakai für die Polizei?«
Imogen schwieg.
»Tut mir leid«, lenkte Hester schließlich ein. »Aber ich weiß genau, daß dir irgendwas zu schaffen macht. Ich fühle mich einfach völlig hilflos, weil ich keine Ahnung habe, was es ist.«
Imogen streckte eine Hand aus und drückte die ihrer Schwägerin.
»Es ist nichts«, sagte sie so leise, daß die Worte durch das Rattern der Räder, das dumpfe Pferdegetrappel und den allgemeinen Straßenlärm kaum zu hören waren. »Mir setzt nur Papas Tod und das anschließende Trara immer noch zu. Keiner von uns hat den Schock schon verkraftet, und ich bin wirklich sehr froh, daß du alles stehen und liegengelassen hast und sofort nach Hause gekommen bist.«
»Das war doch selbstverständlich«, erwiderte Hester wahrheitsgemäß, obwohl ihre Arbeit in den Lazaretten an der Krim sie so sehr verändert hatte, daß weder Imogen noch Charles es auch nur ansatzweise begreifen konnten. Es war ihr ziemlich schwergefallen, die krankenpflegerische Tätigkeit aufzugeben, den leidenschaftlichen Wunsch, zu verbessern, zu verändern und zu heilen, hintanzusetzen – ein Wunsch, der auch unbekanntere Frauen als Miss Nightingale motiviert hatte. Doch als erst ihr Vater und dann binnen weniger Wochen ihre Mutter gestorben war, hatte sie es als eine Art heilige Pflicht betrachtet, nach Hause zurückzukehren, um zu trauern und ihrem Bruder und seiner Frau bei all den Dingen zu helfen, die zwangsläufig anfielen. Natürlich hatte Charles die geschäftlichen und finanziellen Belange geregelt, aber der Haushalt mußte aufgelöst, Bedienstete entlassen, unendlich viele Briefe
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