Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
geschrieben, Kleidungsstücke an die Armen verteilt, die persönliche Hinterlassenschaft verwaltet und die allzeit wichtige gesellschaftliche Fassade aufrechterhalten werden. Es wäre äußerst unfair gewesen, von Imogen zu erwarten, daß sie die ganze Last und Verantwortung allein trug. Hester hatte keinen zweiten Gedanken daran verschwendet, ob ihr Kommen zu ermöglichen war; sie hatte sich entschuldigt, ihre wenigen Habseligkeiten zusammengepackt und war an Bord gegangen.
    Das Leben in London war ein ungeheurer Kontrast zu den Jahren an der Krim, in denen sie jede Menge menschliches Leid in all seinen Erscheinungsformen kennengelernt hatte: Verwundete, die vor Schmerz schrien, von Gewehrkugeln und Schwertern zerfetzte Leichen und – was ihr am meisten zusetzte – unzählige Menschen, die ohne jeden Sinn von Krankheiten dahingerafft wurden. Sie kannte die furchtbaren Krämpfe und schlimmen Brechanfälle von Cholera, Typhus und Ruhr, den Hungertod in eisiger Kälte – und die Unfähigkeit, etwas dagegen zu unternehmen, die sie an den Rand des Wahnsinns getrieben hatte.
    Sie und eine Handvoll andere Frauen hatten bis zur Erschöpfung geschuftet, Menschen von ihren Exkrementen gesäubert, wo keine sanitären Einrichtungen vorhanden waren, den Urin der Hilflosen aufgewischt, der auf den Boden rann und in die Kellerräume durchsickerte, wo die schlimmsten Fälle zusammengepfercht waren – die, für die keine Hoffnung mehr bestand. Sie hatte Männer gepflegt, die im Fieberwahn delirierten, denen brandig gewordene Glieder amputiert werden mußten, nachdem sie von einer Muskete, einer Kanone oder einem Schwert getroffen worden waren – manche deshalb, weil sie sich Frostbeulen geholt hatten in den ungeschützten und gefürchteten Biwaks der Winterlager, in denen jedesmal Tausende von Soldaten und Pferden jämmerlich umkamen. Sie hatte die Babys der unterernährten und vernachlässigten Soldatenfrauen auf die Welt geholt, viele davon wenig später begraben und versucht, den trauernden Müttern Trost zu spenden.
    Und als sie das Elend nicht länger tragen konnte, hatte sich ihr letztes bißchen Energie in unvorstellbarer Wut entladen, hatte sie begonnen, die Unzulänglichkeit der Kommandobehörde zu bekämpfen, die ihrer Ansicht nach über kein Jota gesunden Menschenverstand verfügte, von Führungstalent ganz zu schweigen.
    Sie hatte einen Bruder und viele Freunde verloren, allen voran Alan Russell, einen brillanten Kriegsberichterstatter, der die Zeitungen in der Heimat mit einigen unerfreulichen Wahrheiten über einen der glorreichsten und verwegensten Feldzüge versorgte, der je geführt worden waren. Die meisten Artikel hatte er mit ihr besprochen und sie lesen lassen, bevor er sie abschickte.
    Als das Fieber ihn so weit geschwächt hatte, daß er nicht mehr schreiben konnte, hatte er ihr den letzten Brief diktiert, und sie hatte ihn aufgegeben. Bei seinem Tod im Krankenhaus von Skutari war sie auf die Idee verfallen, selbst einen Bericht zu verfassen, den sie mit seinem Namen unterzeichnete.
    Er wurde angenommen und gedruckt. Von den anderen verwundeten und fiebernden Männern hatte sie genug über Schlachten, Belagerungen und Stellungskrieg, aussichtslose Angriffe und endlose Wochen bodenloser Langeweile erfahren, um weitere Artikel schreiben zu können, alle mit Alans Namen unterschrieben. In dem allgemeinen Chaos fiel es niemandem auf.
    Und nun war sie wieder zu Hause, inmitten des gesittet, würdevoll, ja ausgesprochen nüchtern trauernden Haushalts ihres Bruders, wo man Schwarz trug, als wäre der Tod der Eltern der einzige Verlust, den es zu beklagen gab; als gäbe es nicht mehr zu tun, als in aller Stille einen Stickrahmen in die Hand zu nehmen, Briefe zu verschicken und gemeinsam mit den hiesigen Wohlfahrtseinrichtungen diskrete, kleine gute Taten zu vollbringen. Außerdem mußte Charles’ ständigen, reichlich aufgeblasenen Anordnungen Folge geleistet werden, was wann, wie und wo zu erledigen war. Es war fast nicht zum Aushalten. Sie kam sich vor, als hätte man ihre Lebensgeister zeitweilig außer Kraft gesetzt. Sie war daran gewöhnt, eine gewisse Machtbefugnis zu haben, Entscheidungen zu treffen und jederzeit mit Leib und Seele im Geschehen zu stehen, stets verzweifelt gebraucht zu werden und da zu sein, auch wenn sie vollkommen übermüdet, bitter enttäuscht, voller Zorn oder Mitleid war.
    Sie brachte Charles zur Raserei, weil er sie nicht verstand, weil er nicht begreifen konnte, wie sich das

Weitere Kostenlose Bücher