Das Gesicht des Fremden
wie Spielschulden und dergleichen kommt als Motiv wohl nicht in Frage – dazu war die Tat zu brutal, stimmt’s?« sagte er ohne große Hoffnung.
Monk dachte einen Augenblick nach.
»Erpressung vielleicht«, schlug er aufrichtig erleichtert vor. Die Idee war ihm völlig unerwartet durch den Kopf geschossen, aber sie gefiel ihm.
Evan runzelte die Stirn. Sie gingen mittlerweile die Grey’s Inn Road in südlicher Richtung hinunter.
»Glauben Sie?« Er warf Monk von der Seite her einen skeptischen Blick zu. »Für mich ergibt das keinen Sinn, außerdem sind wir bisher auf keine unerklärlichen Geldeingänge bei Grey gestoßen – aber wir haben uns in der Richtung auch noch nicht umgesehen! Das Opfer einer Erpressung könnte tatsächlich zu abgrundtiefem Haß getrieben werden, was ich ihm offengestanden nicht mal verübeln würde. Wenn jemand wochen oder monatelang gepiesackt, quasi bis aufs letzte Hemd ausgezogen wird und sich dann mit dem gesellschaftlichen Bankrott konfrontiert sieht, kommt vermutlich irgendwann der Punkt, wo ihm eine Sicherung durchbrennt.«
»Wir müssen seinen Freundes und Bekanntenkreis überprüfen, um herauszufinden, wer einen derart fatalen Fehler gemacht haben könnte, daß er erpreßbar wurde – so erpreßbar, daß er sich nur noch mit einem Mord zu helfen wußte.«
»Weil er zum Beispiel homosexuell war?« meinte Evan mit neu erwachendem Mißfallen; Monk wußte, daß er nicht daran glaubte. »Und einen Liebhaber hatte, der ihm für sein Schweigen Geld gab – und ihn umbrachte, weil er den Hals nicht vollkriegen konnte?«
»In der Tat eine brenzlige Angelegenheit.« Monk starrte auf das nasse Pflaster. »Runcorn hatte wirklich recht.« Doch der Gedanke an Runcorn lenkte seine Überlegungen in völlig andere Bahnen.
Er gab Evan den Auftrag, sich sämtliche Ladenbesitzer des Viertels vorzunehmen sowie alle Personen, die sich am Mordabend gemeinsam mit Grey in dessen Klub aufgehalten hatten. Auf diese Weise hoffte er, soviel wie möglich über seinen Bekanntenkreis herauszufinden.
Evan begann mit der Weinhandlung, deren Adresse sie auf dem Briefkopf einer Rechnung in Greys Wohnung entdeckt hatten. Der Besitzer entpuppte sich als dicker Mann mit schlaff herabhängendem Schnurrbart und salbungsvollem Gehabe. Zunächst bekundete er seine Trauer über den tragischen Verlust von Major Grey. Welch entsetzliches Pech! Welche Ironie des Schicksals, daß ein derart prächtiger Offizier den Krieg überstand, nur um in seinen eigenen vier Wänden von einem Verrückten erschlagen zu werden! Was für eine Tragödie! Er wisse gar nicht, was er dazu sagen solle – und tat dies in aller Ausführlichkeit, während Evan verzweifelt versuchte, auch einmal zu Wort zu kommen und eine sinnvolle Frage zu stellen.
Als es ihm schließlich gelang, fiel die Antwort genau so aus, wie er sie sich vorgestellt hatte. Der ehrenwerte Major Joscelin Grey war ein äußerst geschätzter Kunde gewesen. Er hatte einen ausgezeichneten Geschmack – aber was würde man auch anderes von einem derart vornehmen Gentleman erwarten? Er kannte sich sowohl mit französischen wie auch mit deutschen Weinen aus. Er kaufte nur die besten, und die bezog er von eben diesem Unternehmen. Seine Rechnungen? Nein, er bezahlte nicht immer pünktlich – aber zu gegebener Zeit. So waren diese vornehmen Typen nun mal, wenn’s um Geld ging; man hatte gelernt, damit zu leben. Ansonsten wüßte er nichts, rein gar nichts hinzuzufügen. War Mr. Evan Weintrinker? Er könnte ihm einen ausgezeichneten Bordeaux empfehlen!
Nein, Mr. Evan war, wenn auch unfreiwillig, kein Weintrinker; er war der Sohn eines Landpfarrers und bestens in Vornehmtuerei unterrichtet worden, doch sein Geldbeutel erlaubte ihm nur das Nötigste und hin und wieder vielleicht ein gutes Kleidungsstück, was ihm wesentlich besser zustatten kam als der beste Wein. Dem Händler gegenüber erwähnte er das alles natürlich mit keinem Wort.
Als nächstes versuchte Evan sein Glück in den hiesigen Restaurants. Er arbeitete sich vom Steakhouse bis zur Bierschenke durch, die einen hervorragenden Eintopf nebst Rosinenpudding zu bieten hatte – wie er an Ort und Stelle eigens nachprüfte.
»Major Grey?« meinte der Wirt nachdenklich. »Ach der, den se umgebracht haben? Klar kenn ich den! War regelmäßig hier.«
Evan wußte nicht recht, ob er ihm glauben sollte. Möglich war es durchaus; das Essen war billig und sättigend und die Atmosphäre für jemand, der beim Militär gewesen
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