Das Gesicht des Fremden
Gesicht war aschfahl; eine weniger starke Frau wäre längst in Ohnmacht gefallen, doch sie stand kerzengerade da, die weißen Hände ineinander verkrampft, und funkelte ihn mit glühenden Augen an.
»Blödsinn! Wahrscheinlich war’s jemand, mit dem er Karten gespielt hat und der nicht verlieren konnte. Joscelin hat sich öfter mit Glücksspielen die Zeit vertrieben, als er dich hätte merken lassen. Manche Leute spielen um Einsätze, die sie sich nicht leisten können, und verlieren dann, wenn sie ruiniert sind, die Beherrschung und vorübergehend den Kopf.« Sein Atem ging heftig. »Spielklubs sind nicht immer so wählerisch in der Auswahl der Leute, die sie hereinlassen, wie sie sein sollten. Glaubst du im Ernst, jemand hier in Shelburne könnte etwas über die Sache wissen?«
»Es ist ebensogut denkbar, daß es aus Eifersucht wegen einer Frau geschah«, gab sie eisig zurück. »Joscelin war ausgesprochen anziehend, wie du weißt.«
Lovel wurde rot; die Haut in seinem Gesicht schien bis zum Zerreißen gespannt.
»Woran man niemals versäumt, mich zu erinnern«, sagte er mit verhaltener, gefährlich leiser Stimme. »Aber nicht jeder war so empfänglich dafür wie du, Mama. Es ist ein rein äußerlicher Vorzug.«
»Du hast nie begriffen, was es mit Charme auf sich hat, Lovel, das ist dein großes Pech. Vielleicht bist du nun so freundlich und bestellst eine Extraportion Tee in den Salon.« Sie schenkte ihrem Sohn keine weitere Beachtung und verstieß obendrein – wie um ihn zu ärgern – gegen die Etikette, indem sie fragte: »Wollen Sie sich uns anschließen, Mr. Monk? Vielleicht kann meine Schwiegertochter Ihnen weiterhelfen. Ihr oblagen zum Teil die gleichen Aufgaben wie Joscelin. Außerdem besitzen Frauen häufig eine bessere Beobachtungsgabe, was andere Frauen betrifft, besonders« – sie stockte –, »wenn es um Gefühlsangelegenheiten geht.«
Ohne auf seine Antwort zu warten und einen Blick an Lovel zu verschwenden, ging sie, Monks Einverständnis voraussetzend, zur Tür und blieb vor ihr stehen. Lord Shelburne zögerte für den Bruchteil einer Sekunde, dann folgte er ihr gehorsam und hielt seiner Mutter die Tür auf. Sie rauschte hinaus, wobei sie keinem von ihnen mehr die geringste Beachtung zukommen ließ.
Im Salon herrschte eine gezwungene Atmosphäre. Rosamond konnte nur mit Mühe ihre Verwunderung ob der Tatsache verbergen, daß man von ihr erwartete, mit einem Polizisten Tee zu trinken, als wäre er ein Mann von Stand. Selbst das Hausmädchen fühlte sich augenscheinlich unwohl, als es mit der Extratasse und dem zusätzlichen Gebäck erschien. Der Klatsch an der Hintertreppe hatte sie offenbar bereits über Monks Status informiert. Der dachte insgeheim an Evan und fragte sich, ob er wohl irgendwelche Fortschritte machte.
Nachdem das Mädchen jeden mit einer Tasse und einem Teller versorgt hatte und wieder verschwunden war, ergriff Lady Fabia mit gemessener, ruhiger Stimme das Wort. Lovels Blick wich sie weiterhin aus.
»Meine liebe Rosamond, die Polizei möchte alles über Joscelins gesellschaftliche Aktivitäten während der letzten Monate seines Lebens wissen. Du warst zum Großteil mit den gleichen Aufgaben betraut wie er, folglich wirst du mehr über seine Bekanntschaften wissen als ich – unter anderem zum Beispiel, wer ein stärkeres Interesse an ihm gezeigt haben könnte, als klug war?«
»Ich?« Entweder war Rosamond wirklich überrascht oder aber eine bessere Schauspielerin, als Monk vermutet hatte.
»Ja – du, meine Liebe.« Lady Fabia reichte ihr das Gebäck, das sie jedoch ignorierte. »Du bist genau die Richtige dafür. Ursula werde ich natürlich auch noch fragen.«
»Wer ist Ursula?« warf Monk ein.
»Miss Ursula Wadham; sie ist mit meinem zweiten Sohn Menard verlobt. Überlassen Sie es getrost mir, sie nach nützlichen Informationen auszuhorchen.« Damit war Monks Frage für sie erledigt, und sie wandte sich wieder Rosamond zu.
»Also?«
»Ich – ich wüßte nicht, daß Joscelin eine… spezielle Bekanntschaft gehabt hätte«, erklärte Rosamond ein wenig lahm, als spräche sie nicht gern über das Thema. Während er sie beobachtete, überlegte Monk flüchtig, ob sie eventuell selbst in Joscelin verliebt gewesen war und Lovel sich deshalb dermaßen gegen die Ermittlungen sperrte.
War ihr Verhältnis zueinander über bloße Anziehung hinausgegangen?
»Das habe ich nicht gefragt«, versetzte Lady Fabia nicht allzu sanft. »Ich fragte, ob jemand ein starkes
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