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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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auf, an deren Grasbüscheln ein heftiger Nordwind zerrte.
    Am milchigen Himmel trieben Schäfchenwolken in Richtung Meer, begleitet von lauthals kreischenden Seemöwen.
    Er sah seine Mutter, dunkelhaarig wie Beth, inmitten des Geruchs nach Hefe und Mehl in der Küche stehen. Sie war stolz auf ihn, weil er lesen und schreiben konnte. Er mußte damals noch ziemlich klein gewesen sein. Er sah einen sonnenlichtdurchfluteten Raum, wo ihm die Pfarrersfrau das Abc beibrachte; Beth, die ein Kinderschürzchen trug, stand dabei und starrte ihn mit kugelrunden, ehrfürchtigen Augen an. Ihr sagten die Buchstaben nichts. Monk konnte spüren, wie er Jahre später ihre Hand führte, ganz langsam, Strich für Strich. Ihre Schrift trug noch heute die Spuren dieser endlosen Stunden, der großen Sorgfalt und des unermüdlichen Lerneifers. Sie hatte ihn geliebt, von ganzem Herzen – vorbehaltlos. Dann verschwand die Erinnerung, und er hatte das Gefühl, in eiskaltes Wasser getaucht und frierend und verängstigt zurückgelassen zu werden. Monk war wie betäubt. Er merkte nicht, daß Evan ihm einen verwunderten Blick zuwarf, jedoch gleich darauf wegschaute, weil er instinktiv spürte, daß alles andere ein Eindringen in Monks Privatsphäre gewesen wäre.
    Shelburne Hall war inzwischen in Sichtweite gekommen. Knappe tausend Meter vor ihnen hob es sich von Bäumen eingerahmt gegen den Horizont ab.
    »Soll ich auch was sagen oder nur zuhören?« wollte Evan wissen. »Vielleicht ist es besser, wenn ich still bin.«
    Monk wurde schlagartig klar, wie nervös sein Kollege sein mußte. Es war gut möglich, daß er sich noch nie mit einer Dame von Stand unterhalten, geschweige denn ihr Fragen über persönliche oder gar unangenehme Dinge gestellt hatte. Wahrscheinlich hatte er ein solches Haus bisher nur aus der Ferne gesehen. Monk fragte sich, woher seine eigene Sicherheit diesbezüglich stammte und warum er erst jetzt darüber nachdachte. Runcorn hatte recht: Er war ehrgeizig und arrogant – und unsensibel.
    »Kümmern Sie sich um die Diener«, erwiderte er. »Diese Leute bekommen eine Menge mit. Sie lernen manchmal Seiten der gnädigen Herrschaften kennen, die sich Ihre Lord und Ladyschaften unter ihresgleichen wohlweislich verkneifen.«
    »Wie wär’s mit dem Kammerdiener?« schlug Evans vor.
    »Wenn man nur seine Unterwäsche anhat, fällt’s einem vermutlich am schwersten, sich zu verstellen.« Bei dem Gedanken mußte er unvermittelt grinsen. Die Vorstellung, ein gesellschaftlich Höhergestellter könnte in Belangen der Körperpflege derart hilflos sein, daß er dafür Hilfe benötigte, war wirklich zu komisch; außerdem lenkte sie ihn von der Befürchtung ab, der Situation nicht gewachsen zu sein.
    Lady Fabia Shelburne war nicht schlecht überrascht, Monk so bald schon wiederzusehen. Sie ließ ihn über eine halbe Stunde warten, diesmal im Aufenthaltsraum des Butlers, der die Silberpolitur, ein abgeschlossenes Pult für Weinbuch und Kellerschlüssel sowie einen bequemen Lehnstuhl vor einer winzigen Feuerstelle enthielt. Die Kemenate des Hausmeisters war offenbar besetzt. Er ärgerte sich über Lady Fabias Anmaßung, kam jedoch nicht umhin, ihre unglaubliche Selbstbeherrschung zu bewundern. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er von ihr wollte – es war immerhin denkbar, daß er gekommen war, um ihr mitzuteilen, wer ihren Sohn umgebracht hatte und warum!
    Als er endlich in das Rosenholzzimmer geführt wurde, welches ausschließlich ihr Reich zu sein schien, gab sie sich distanziert huldvoll, als sei er gerade erst eingetroffen und sie selbst lediglich aus Gründen der Höflichkeit an seinem Anliegen interessiert.
    Auf eine Handbewegung ihrerseits hin ließ er sich auf demselben rosaroten Stuhl nieder wie beim letztenmal.
    »Nun, Mr. Monk?« erkundigte sie sich mit leicht gehobenen Brauen. »Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen?«
    »Jawohl, Ma’am, verzeihen Sie bitte die Störung. Unsere Vermutung, Major Grey sei aus persönlichen Gründen getötet worden und nicht das zufällige Opfer einer Gewalttat gewesen, hat sich erhärtet. Aus diesem Grund müssen wir soviel wie möglich über ihn in Erfahrung bringen. Was seine sozialen Kontakte anbelangt –«
    Ihre Augen weiteten sich. »Falls Sie glauben sollten, seine sozialen Kontakte seien von solcher Art gewesen, daß sie zu Mord und Totschlag geführt haben, sind Sie über die Gepflogenheiten unserer Gesellschaftskreise außerordentlich schlecht informiert, Mr.

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