Das Gesicht des Fremden
jeden Tag der Woche!
Das Leben hatte mehr zu bieten.
Charles hatte selbstverständlich auch vom Heiraten gesprochen, doch wenn man das Kind einmal beim Namen nannte: Sie war gewiß nicht das, was man sich unter einer guten Partie vorstellte, dafür garantierte schon ihre augenblickliche Situation. Ihr Äußeres war im Grunde ganz passabel, nur war sie etwas groß geraten; sie schaute über die Köpfe zu vieler Männer hinweg. Außerdem hatte sie keine Mitgift zu erwarten und infolgedessen keinerlei Hoffnungen. Sie stammte aus guter Familie, verfügte aber über keine Kontakte zu den großen Häusern; man war vornehm genug gewesen, Ambitionen zu haben und die Töchter in allerlei unnützen Künsten unterrichten zu lassen, jedoch nicht privilegiert genug, daß die bloße Herkunft als Köder ausreichte.
Was vielleicht alles zu überwinden gewesen wäre, hätte sie ein ebenso angenehmes Wesen wie Imogen gehabt – nur war das unglücklicherweise nicht der Fall. Wo Imogen durch Sanftmut, Charme, ungeheures Taktgefühl und Zurückhaltung glänzte, war Hester schroff, voll Verachtung gegenüber Heuchelei, absolut unnachgiebig, was Wankelmut und Dilettantismus betraf, und nicht im geringsten gewillt, Dummheit auch nur mit einem Funken Charme zu begegnen. Sie las lieber und widmete sich intensiver ihrer Weiterbildung, als bei einer Frau als attraktiv empfunden wurde. Obendrein war sie nicht ganz frei von der intellektuellen Überlegenheit eines Menschen, dem das Denken leichtfiel.
Sie war als eine der ersten dazu bereit gewesen, England zu verlassen und unter haarsträubenden Bedingungen an die Krim zu segeln, um Florence Nightingale im Militärkrankenhaus von Skutari hilfreich unter die Arme zu greifen.
Hester erinnerte sich deutlich an den Augenblick, als sie die Stadt zum erstenmal gesehen hatte. Sie hatte erwartet, ein vom Krieg verwüstetes Ruinenfeld vorzufinden, statt dessen war ihre Kehle beim Anblick der weißen Mauern und grünkupfernen Kathedralenkuppeln am tiefblauen Horizont vor Ehrfurcht wie zugeschnürt gewesen.
Später lagen die Dinge anders. Sie war Zeugin unglaublichen Elends und sinnlosen Sterbens geworden, beides durch die bodenlose Inkompetenz der Autoritäten verschlimmert, und hatte dennoch nicht den Mut sinken lassen, niemals eine Belohnung für ihre Aufopferungsbereitschaft gefordert und stets gleichbleibend viel Geduld für die schwer Leidenden gezeigt. Gleichzeitig war sie durch die harten Erfahrungen strenger gegen sich und andere geworden als angemessen. Jeder Mensch nahm sein Leid im akuten Stadium sehr schwer, der Gedanke, anderen könnte es wesentlich schlechter gehen, kam nur wenigen. Das vergaß Hester nie, es sei denn, man zwang sie dazu, und genau das taten die meisten Leute: Sie schreckten davor zurück, unangenehme Dinge beim Namen zu nennen.
Sie war hochintelligent und besaß eine besondere Begabung für logisches Denken, was den Großteil ihrer Mitmenschen zu stören schien – vor allem Männer, die so etwas bei einer Frau weder vermuteten noch zu schätzen wußten. Dank dieses Talents war sie für die Verwaltungsabteilung von Krankenhäusern voll schwerverletzter und todkranker Menschen unentbehrlich geworden, doch in den gutbürgerlichen Privathaushalten englischer Edelleute war dafür kein Platz. Hester hätte eine ganze Burg samt der zu ihrer Verteidigung erforderlichen Ritter befehligen können und trotzdem genug Zeit für sich gehabt. Unseligerweise bestand kein Bedarf an Leuten, die Burgen befehligen konnten – und keiner griff sie mehr an.
Zudem marschierte sie stramm auf die Dreißig zu.
Die für sie realistischen Möglichkeiten lagen zum einen auf dem Gebiet der praktischen Krankenpflege, worin sie mittlerweile versiert genug war – wenn sie auch mehr mit Kriegsverletzungen zu tun gehabt hatte als mit Krankheiten, wie sie gemeinhin in England vorkamen –, und zum andern in der Verwaltung in einem Krankenhaus. Trotzdem rechnete sie sich in beiden Bereichen keine allzu großen Chancen aus; Frauen waren weder als Ärzte noch in leitenden Positionen tätig. Dennoch, der Krieg hatte viel verändert, und die Aussicht auf die Arbeit, die getan werden mußte, sowie auf die Reformen, die eventuell durchgesetzt werden konnten, reizte sie mehr, als sie sich selbst eingestehen wollte. Leider waren die Möglichkeiten, dabei mitzuwirken, äußerst gering.
Dann war da noch dieser Hang zum Journalismus, obwohl sie damit kaum genug verdienen konnte, um über die Runden zu kommen.
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