Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
Interesse für Joscelin gezeigt hat – wenn auch ein unerwidertes?«
    Rosamonds Kopf fuhr ruckartig hoch. Einen Moment lang hatte Monk den Eindruck, sie würde sich gegen ihre Schwiegermutter auflehnen, doch der rebellische Funken in ihrem Blick war gleich wieder erloschen.
    »Norah Partridge mochte ihn sehr gern«, sagte sie langsam und wohl durchdacht. »Aber das ist wohl nichts Neues. Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, daß Sir John es so schwer genommen hat, um sich auf den weiten Weg nach London zu machen und einen Mord zu begehen. Natürlich mag er Norah, aber so sehr nun auch wieder nicht.«
    »Du bist doch tatsächlich scharfsichtiger, als ich dachte«, bemerkte Lady Fabia mit bissigem Erstaunen. »Nur leider recht unbedarft, was das Verständnis der männlichen Natur betrifft. Es ist nicht nötig, etwas selbst haben zu wollen, um einem andern zu verübeln, daß er es einem wegnehmen könnte; vor allem, wenn er die Unverfrorenheit besitzt, es in aller Öffentlichkeit zu tun.« Sie wandte sich an Monk, dem kein Gebäck angeboten wurde. »Das wäre doch ein Anhaltspunkt für Sie. Ich bezweifle zwar, daß sich John Partridge zu einem Mord hinreißen lassen oder – falls doch einen Spazierstock dazu benutzen würde«, auf ihrem Gesicht erschien erneut ein gequälter Ausdruck, »aber Norah hat eine ganze Menge Verehrer. Sie ist ein recht extravagantes Geschöpf und nicht mit besonders viel Urteilsvermögen ausgestattet.«
    »Danke für den Tip, Ma’am. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?«
    Im Verlauf der nächsten Stunde wurden erst vergangene Romanzen, dann aktuelle und mutmaßliche Affären aufgewärmt. Monk hörte nur mit einem Ohr hin. Ihn interessierten weniger die Fakten als die feinen Abstufungen in der Art und Weise, wie sie präsentiert wurden. Joscelin war zweifellos Mamas Liebling gewesen, was ihn nicht im geringsten wunderte, sollte der abwesende Menard seinem Bruder Lovel ähnlich sein. Wie immer ihre Gefühle jedoch geartet sein mochten, die Primogenitur sorgte dafür, daß nicht nur Titel und Ländereien, sondern auch das für deren Erhaltung erforderliche Geld und der damit verbundene Lebensstil an Lovel übergingen, den Erstgeborenen.
    Lord Shelburne steuerte nichts zu dem Gespräch bei und seine Frau Rosamond gerade genug, um ihre Schwiegermutter zufriedenzustellen, vor der sie wesentlich mehr Respekt zu haben schien als vor ihrem Ehemann.
    Lady Callandra Daviot war zu Monks Enttäuschung offenbar nicht zu Hause. Er hätte gern gehört, was sie in ihrer unverblümten Art zu dem Thema zu sagen hatte, obwohl er nicht sicher war, daß sie sich im trauernden Familienkreis genauso freimütig äußern würde wie an jenem verregneten Nachmittag im Garten.
    Er bedankte sich und machte sich nach den üblichen Abschiedsfloskeln eilends auf den Weg, Evan abzuholen, damit sie sich im Dorf noch ein Glas Apfelwein genehmigen konnten, ehe der Zug nach London ging.
    »Und – wie war’s?« fragte Monk ungeduldig, sobald sie vom Haus aus nicht mehr zu sehen waren.
    »Mmmmm.« Evan hatte Schwierigkeiten, seine Verzückung geheimzuhalten. Seine Schritte waren ausladend, sein dürrer Körper barst geradezu vor Energie; er lief laut platschend durch sämtliche Wasserpfützen, ohne sich im mindesten um seine immer nasser werdenden Stiefel zu kümmern. »Es war umwerfend! Ich bin noch nie in einem so großen Haus gewesen – hinter den Kulissen, meine ich. Mein Vater war Geistlicher, und da bin ich als Kind manchmal mit ihm zum Herrensitz gegangen, aber das war was völlig anderes. Meine Güte, diese Hausdiener kriegen Dinge mit, bei denen ich vor Scham im Erdboden versinken würde! Ihre Herrschaft behandelt sie buchstäblich, als ob sie blind und taub wären.«
    »Für die Herrschaft sind sie auch keine Menschen – jedenfalls keine, die mit ihnen vergleichbar wären«, erwiderte Monk. »Sie kommen aus einer anderen Welt und haben, abgesehen von ihrer Handlangerfunktion, nicht in Erscheinung zu treten. Deshalb spielen ihre Ansichten auch nicht die geringste Rolle. Haben Sie sonst noch was dazugelernt?« Er mußte über Evans Naivität schmunzeln.
    Der grinste. »Ich würde sagen, sie haben mir alles über die Familie verraten, was ihrer Meinung nach vertraulich ist – obwohl sie das einem Polizisten oder sonst wem gegenüber natürlich nie offen tun würden! Sie halten sich nach wie vor für außerordentlich verschwiegen.«
    »Wie haben Sie das geschafft?« erkundigte sich Monk gespannt, während er

Weitere Kostenlose Bücher