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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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verblüfft in das unschuldige, sensible Gesicht seines Kollegen schaute.
    Evans Wangen färbten sich schwachrosa. »Hab mich auf Gedeih und Verderb der Köchin ausgeliefert«, verkündete er und senkte den Kopf, ohne jedoch das Tempo zu drosseln. »Und meine arme Wirtin gräßlich verleumdet, fürchte ich. Hab mich ziemlich abfällig über ihre Kochkünste geäußert – oh, und ich mußte eine Weile draußen warten, deshalb waren meine Hände ganz kalt –« Er hob den Kopf, sah Monk kurz an und gleich wieder weg. »Ungemein mütterlicher Typ, Lady Shelburnes Köchin. Wie’s aussieht, hab ich einiges mehr erreicht als Sie«, fügte er mit ziemlich blasiertem Lächeln hinzu.
    »Jedenfalls hab ich nichts zu essen gekriegt«, gab Monk verdrossen zurück.
    »Oh, das tut mir leid«, versicherte Evan, ohne weiter nachzuhaken.
    »Und was hat Ihnen Ihr dramatisches Debüt eingebracht, außer einem Mittagessen, versteht sich? Ich darf wohl annehmen, daß Sie die Ohren ordentlich aufgesperrt haben – während Sie den armen Tropf markiert und den Leuten die Haare vom Kopf gefressen haben?«
    »Aber sicher! Wußten Sie, daß Rosamond aus wohlhabender, aber recht junger Familie stammt? Außerdem verliebte sie sich zuerst in Joscelin, aber ihre Mutter bestand darauf, daß sie den ältesten Bruder heiratet, der ihr ebenfalls den Hof machte; also war sie ein braves, folgsames Mädchen und tat, wie ihr geheißen. Das habe ich zumindest aus dem rausgehört, was das Hausmädchen zur Waschfrau gesagt hat – bevor das Stubenmädchen auftauchte, ihnen das Klatschen verbot und sie wieder an die Arbeit scheuchte.«
    Monk pfiff leise durch die Zähne.
    »Ach ja«, fuhr Evan fort, ehe er ein Wort einwerfen konnte, »in den ersten Jahren blieb die Ehe kinderlos, aber dann, vor etwa anderthalb Jahren, brachte sie einen Sohn zur Welt: den Erben des Titels. Ein paar besonders böse Zungen behaupten, der Junge hätte zwar die charakteristischen Züge der Shelburnes, erinnere jedoch mehr an Joscelin als an Lovel – das hätte jedenfalls der zweite Lakai in der Dorfschenke aufgeschnappt. Blaue Augen, dabei ist Lord Shelburne ein durch und durch dunkler Typ, genau wie sie jedenfalls was ihre Augen betrifft …«
    Monk blieb wie angewurzelt stehen und starrte Evan entgeistert an.
    »Sind Sie sicher?«
    »Ich bin sicher, daß sie genau das gesagt haben, und Lord Shelburne muß es auch wissen, schließlich –« Evan machte ein entsetztes Gesicht. »Du liebe Zeit! Das hat Runcorn gemeint, nicht wahr? Brenzlig – o Mann, brenzlig ist gar kein Ausdruck!« In seiner Bestürzung wirkte er geradezu komisch; alle Begeisterung hatte ihn verlassen. »Und was machen wir jetzt? Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie Lady Shelburne reagiert, wenn Sie versuchen, ihr damit zu kommen!«
    »Das kann ich auch«, pflichtete Monk ihm düster bei. »Und ich habe nicht die leiseste Ahnung, was wir jetzt machen sollen.«

6
    Hester Latterly stand am Fenster des winzigen Salons im Haus ihres Bruders in der Thanet Street, ganz in der Nähe der Marylebone Road, und betrachtete die vorbeifahrenden Vehikel. Das Haus war kleiner und bei weitem nicht so beeindruckend wie das Heim ihrer Eltern am Regent Square. Nach dem Tod ihres Vaters war ihnen nichts anderes übriggeblieben, als es zu verkaufen. Eigentlich hatte sie sich immer vorgestellt, Charles und Imogen würden dorthin zurückziehen, aber das Familienvermögen hatte gerade gereicht, die anfallenden Kosten zu decken, und keiner von ihnen hatte auch nur einen Penny geerbt. So wohnte Hester also bei Charles und Imogen, woran sich so lange nichts ändern würde, bis ihr etwas Besseres einfiel – und genau darum drehten sich ihre Gedanken.
    Ihre Möglichkeiten waren begrenzt. Der gesamte Besitz ihrer Eltern war veräußert, alle erforderlichen Briefe geschrieben, die Hausdiener hatten ausgezeichnete Empfehlungsschreiben bekommen. Zum Glück waren die meisten von ihnen gleich woanders untergekommen. Nun war es für sie an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Charles hatte natürlich gemeint, sie wäre herzlich eingeladen, so lang zu bleiben, wie sie wollte – gern auf unbestimmte Zeit. Allein die Vorstellung war schrecklich. Sie als Dauergast, weder von Gebrauchsnoch von Schönheitswert, ständiger Eindringling in einem Haushalt, der eigentlich Privatsphäre für ein Ehepaar und zu gegebener Zeit für deren Kinder sein sollte. Tante zu sein war ja ganz nett, aber nicht zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen, und das

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