Das Gesicht des Fremden
Sollte sie ihn vollkommen verdrängen…?
Sie brauchte einen Rat. Charles würde das Ganze genauso mißfallen wie ihre verrückte Idee, auf die Krim zu gehen. Er würde sich um ihre Sicherheit, ihren guten Ruf, ihre Ehre sorgen – und um ähnlich unkonkrete und undefinierbare Dinge, an denen sie zu Schaden kommen könnte. Armer Charles, was hatte er doch für einen schablonenhaften Verstand! Wie sie beide Geschwister sein konnten, war ihr unbegreiflich.
Imogen zu behelligen hatte ebenfalls wenig Sinn. Ihr fehlte das nötige Hintergrundwissen, außerdem schien sie neuerdings ganz mit ihren eigenen Problemen beschäftigt zu sein. Hester hatte vorsichtig versucht, mit ihr darüber zu sprechen, doch außer der relativen Gewißheit, daß Charles noch weniger wußte als sie selbst, nicht das mindeste aus ihrer Schwägerin herausbekommen.
Während sie versunken auf die Straße hinausstarrte, konzentrierten sich Hesters Gedanken auf Lady Callandra Daviot, ihre Mentorin und Freundin aus den Tagen vor der Zeit auf der Krim. Sie war die richtige Ratgeberin. Sie wußte einerseits, was im Rahmen des Möglichen lag, andererseits aber auch, wieviel Hester riskieren konnte und ob es sie – im Falle ihres Erfolgs – glücklich machen würde. Callandra hatte sich niemals darum geschert, ob ihr Tun den Leuten in den Kram paßte, und war der Meinung, daß das, was die Gesellschaft von einem verlangte, nie mit dem übereinstimmte, was man selbst wollte.
Sie hatte Hester sowohl in ihr Londoner Domizil als auch nach Shelburne Hall eingeladen, wo sie eine eigene Zimmerflucht besaß und jederzeit Gäste beherbergen durfte. Hester hatte an beide Adressen geschrieben und gefragt, ob sie kommen dürfe, und an diesem Morgen ein positives Antwortschreiben erhalten.
In dem Moment ging hinter ihr die Tür auf. Sie hörte Charles’ Schritte und drehte sich um, den Brief noch in der Hand.
»Ich habe beschlossen, ein paar Tage, vielleicht auch eine Woche oder mehr, bei Lady Callandra Daviot zu verbringen, Charles.«
»Kenne ich sie?« fragte er wie aus der Pistole geschossen; seine Augen weiteten sich kaum merklich.
»Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich. Sie ist Ende Fünfzig und tritt öffentlich kaum in Erscheinung.«
»Hast du vor, ihre Gesellschafterin zu werden?« Charles dachte wie üblich praktisch. »Ich glaube nicht, daß du dafür geeignet bist, Hester. Bei aller Liebe, ich kann mir nicht vorstellen, daß sich eine ältere Dame mit zurückhaltendem Wesen in deiner Gegenwart wohl fühlen würde. Du bist extrem rechthaberisch – und hast außerdem nur sehr wenig Verständnis für die Mühsal des täglichen Lebens. Und du hast es noch nie geschafft, deine Meinung für dich zu behalten, auch wenn sie noch so unsinnig war.«
»Ich habe es auch nie versucht!« erwiderte sie scharf; obwohl sie wußte, daß er es im Grunde gut meinte, hatten seine Worte sie verletzt.
Er, mit seinem etwas verschrobenen Sinn für Humor, lächelte.
»Das ist mir vollkommen klar, meine Liebe. Ansonsten hättest selbst du mehr Erfolg haben müssen!«
»Ich habe nicht die Absicht, Gesellschafterin zu werden«, betonte Hester. »Sie ist die Witwe von Colonel Daviot, ehemals Chirurg bei der Armee. Ich wollte sie um ihren Rat fragen, was zu tun am besten für mich ist.«
»Glaubst du wirklich, ihr fällt zu dem Thema irgendwas Vernünftiges ein?« meinte Charles überrascht. »Ich kann’s mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aber wenn du unbedingt willst, bitte, fahr hin. Jedenfalls bist du uns eine wunderbare Hilfe gewesen, und wir sind dir von ganzem Herzen dankbar. Du bist sofort gekommen, als wir dich gebraucht haben.«
»Es handelte sich schließlich um eine Familientragödie.« Ausnahmsweise war sie in ihrer Unverblümtheit einmal gnädig gestimmt. »Ich wäre nirgendwo lieber gewesen. Aber um zum Thema zurückzukommen: Lady Callandra verfügt über beträchtliche Lebenserfahrung, und ihre Meinung bedeutet mir sehr viel. Wenn es dir recht ist, breche ich morgen früh auf.«
»Sicher –« Charles stockte; etwas schien ihm auf der Seele zu lasten. »Äh –«
»Was ist denn?«
»Verfügst du über – äh – ausreichende Mittel?«
Hester mußte lächeln. »Ja, danke. Im Moment reicht’s.«
Er machte einen erleichterten Eindruck. Sie wußte sehr gut, daß er nicht von Natur aus spendabel war, seiner eigenen Familie gegenüber hatte er sich jedoch niemals knickerig benommen. Sein Zögern war nur eine weitere Untermauerung ihrer
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