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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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These, daß sich die Finanzlage in den letzten vier, fünf Monaten drastisch verschlechtert hatte. Schon andere Kleinigkeiten hatten darauf hingedeutet: Es waren nicht mehr so viele Bedienstete vorhanden wie vor ihrer Abreise auf die Krim; es gab lediglich noch die Köchin, eine Küchenmagd, ein Spülmädchen, ein Hausmädchen und ein Stubenmädchen, das zugleich als Imogens Zofe fungierte. Der Butler war der einzige männliche Hausdiener; einen Lakai gab es nicht, nicht einmal einen Stiefelputzer. Das Spülmädchen kümmerte sich um die Schuhe.
    Imogen hatte ihre Sommergarderobe nicht mit der üblichen Sorglosigkeit erneuert, Charles hatte wenigstens ein Paar seiner kostbaren Stiefel in Reparatur gebracht. Das Silbertablett, auf dem die Visitenkarten der Besucher transportiert wurden, war aus der Halle verschwunden.
    Es war allerhöchste Zeit, daß sie sich Gedanken über ihre eigene Position und die Notwendigkeit machte, selbst Geld zu verdienen. Vielleicht käme auch eine allgemeinwissenschaftliche Tätigkeit in Frage; Studien jeglicher Art fesselten sie, andererseits waren die für Frauen zugänglichen Tutorenposten dünn gesät, und die Beschränkungen der damit verbundenen Lebensweise schreckten sie ab. Hester las zum Vergnügen.
    Nachdem Charles sich zurückgezogen hatte, ging sie nach oben. Imogen war in der Wäschekammer damit beschäftigt, Kissenbezüge und Bettlaken zu inspizieren. Das Instandhalten der Wäsche war selbst für einen so bescheidenen Haushalt eine umfangreiche Angelegenheit, besonders, wenn man ohne Wäschemagd auskommen mußte.
    »Darf ich?« Hester ging ihrer Schwägerin zur Hand, indem sie die Kantenstickerei nach Rissen oder aufgetrennten Stichen untersuchte. »Ich werde für kurze Zeit zu Lady Callandra Daviot aufs Land fahren. Ich brauche ihren Rat, wie ich mein weiteres Leben gestalten soll.« Sie bemerkte Imogens verwunderten Blick und fügte erklärend hinzu: »Zumindest wird sie besser wissen als ich, welche Möglichkeiten mir überhaupt offenstehen.«
    »Oh.« Imogens Gesichtsausdruck bekundete Freude und Enttäuschung zugleich. Einerseits verstand sie gut, daß Hester eine Entscheidung treffen mußte, andererseits würde sie die Schwägerin vermissen. Die beiden waren mittlerweile enge Freundinnen geworden; ihre grundverschiedenen Wesenszüge hatten sich eher ergänzt als zu Konflikten geführt. »Dann solltest du Gwen mitnehmen. Du kannst dich nicht ohne Kammerzofe bei Leuten von Stand aufhalten.«
    »Natürlich kann ich«, protestierte Hester entschieden.»Ich habe keine, also bleibt mir nichts anderes übrig. Es macht mir nichts aus, und Lady Callandra ist die letzte, die so was stört.«
    Imogen schaute sie zweifelnd an. »Und wer zieht dich zum Dinner um?«
    »Du meine Güte! Das schaffe ich allein!«
    »Ja, meine Liebe, das habe ich gemerkt.« In Imogens Gesicht zuckte es leicht. »Ich bin sicher, deine Aufmachung ist hervorragend geeignet, um kranke Menschen zu pflegen oder sich mit störrischen Respektspersonen beim Militär rumzuschlagen –«
    »Imogen!«
    »Und was ist mit deiner Frisur? Du wirst wahrscheinlich bei Tisch erscheinen, als ob dich gerade eine heftige Windbö zum Seitenfenster reingeweht hätte.«
    »Imogen!« Hester warf mit einem Stapel Handtücher nach ihr. Eins davon streifte Imogens Haar, so daß ihre sorgfältig gedrehten Locken sich lösten, die übrigen Handtücher landeten in wildem Durcheinander auf dem Fußboden.
    Imogen revanchierte sich mit einem Bettlaken, das bei Hester ein ähnliches Resultat erzielte. Sie musterten gegenseitig ihr derangiertes Aussehen und brachen in Gelächter aus.
    In dem Moment ging die Tür auf, und Charles erschien auf der Schwelle; er machte ein verwirrtes, leicht beunruhigtes Gesicht.
    »Was ist passiert?« rief er gebieterisch, in der Annahme, bei ihrem Schluchzen handle es sich um die Begleiterscheinung einer Notsituation. »Fühlt ihr euch nicht wohl? Was ist denn los, um Himmels willen!« Dann erst merkte er, daß Hester und Imogen sich glänzend amüsierten, was ihn nur um so mehr durcheinanderzubringen schien. Und als keine der beiden Anstalten machte, aufzuhören oder wenigstens ernsthaft Notiz von seiner Anwesenheit zu nehmen, wurde er regelrecht wütend.
    »Imogen! Reiß dich zusammen!« sagte er scharf. »Was ist bloß in dich gefahren?«
    Imogen konnte nicht anders, als nach wie vor hilflos lachen.
    »Hester!« Charles’ Gesicht färbte sich rosa. »Hester, sei still! Hör sofort auf!«
    Hester sah ihn

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