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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Jahren hatte sie das Haus anläßlich ihrer Heirat verlassen, sich jedoch häufig dort aufgehalten, und als sie Witwe wurde, hatte man ihr freundlicherweise gestattet, die ihrem Status angemessene Gastfreundschaft weiterhin in Anspruch zu nehmen.
    Hester’s Zimmer war groß und ein wenig düster. Eine Wand verschwand gänzlich hinter einem Wandteppich, die restlichen waren mit grüngrauen Papiertapeten bedeckt. Das schönste war ein herrliches Gemälde, auf dem zwei Hunde abgebildet waren und dessen Blattgoldrahmen die Sonnenstrahlen einfing. Die Fenster gingen nach Westen hinaus; ein sommerlich klarer Abendhimmel tauchte die mächtigen Buchen vor dem Haus und den dahinterliegenden, von einer Steinmauer umgebenen Kräutergarten in verschwenderisch sattes Licht. Die knorrigen Äste von Obstbäumen streckten sich wie grotesk verrenkte Finger nach der angrenzenden Parklandschaft aus.
    In einem großen, blauweißen Porzellankrug stand heißes Wasser bereit, daneben befanden sich eine passende Waschschüssel sowie frische Handtücher. Hester verlor keine Zeit, entledigte sich ihrer schweren, staubigen Röcke, wusch sich Hals und Gesicht und stellte die Schüssel anschließend auf den Boden, um ihre heißen, schmerzenden Füße darin zu versenken.
    Sie gab sich gerade diesem Vergnügen hin, als es an die Tür klopfte.
    »Wer ist da?« rief sie einigermaßen entsetzt, da sie nichts als Pantalons und Mieder trug.
    »Callandra.«
    »Oh –« Vermutlich war es dumm, Callandra Daviot mit etwas beeindrucken zu wollen, das man ohnehin nicht aufrechterhalten konnte. »Kommen Sie rein!«
    Callandra öffnete die Tür und blieb auf der Schwelle stehen; sie lächelte erfreut.
    »Liebste Hester! Wie schön, Sie zu sehen. Sie scheinen sich nicht im geringsten verändert zu haben – zumindest innerlich.« Damit zog sie die Tür hinter sich ins Schloß, marschierte quer durch den Raum und ließ sich auf einem der Polstersessel nieder. Lady Callandra Daviot war weder jetzt eine Schönheit, noch war sie es je gewesen; die Hüften waren zu breit, die Nase zu lang, die Augen von leicht unterschiedlicher Farbe. Ihr Gesicht zeugte allerdings von Intelligenz, Humor und beträchtlicher Willenskraft, und Hester kannte niemand, den sie lieber mochte. Ihr Anblick reichte aus, um bessere Laune zu bekommen und neue Zuversicht zu fassen.
    »Schon möglich.« Hester wackelte in dem mittlerweile abgekühlten Wasser mit den Zehen; das Gefühl war herrlich.
    »Aber es ist eine Menge passiert. Meine Situation hat sich vollkommen geändert.«
    »Ja, das haben Sie mir geschrieben. Es tut mir sehr leid, was mit Ihren Eltern geschehen ist. Glauben Sie mir bitte, Sie haben mein tiefstes Mitgefühl.«
    Hester wollte nicht darüber sprechen, die Wunde war noch zu frisch. Imogen hatte sie schriftlich über den Tod ihres Vaters in Kenntnis gesetzt, wenn sie sich auch nicht groß über die Begleitumstände ausgelassen hatte. Aus dem Brief ging lediglich hervor, daß er entweder beim Reinigen seiner Duellpistolen von einer Kugel getroffen worden war oder einen Einbrecher überrascht hatte. Letzteres war allerdings recht unwahrscheinlich, da sich das Ganze am späten Nachmittag ereignete. Die Polizei hatte zwar nicht darauf bestanden, jedoch durchblicken lassen, daß es Selbstmord war, und die definitive Feststellung der Todesumstände aus Rücksicht, auf die Angehörigen offengelassen. Selbstmord war nicht nur ein Verstoß gegen das Gesetz, sondern auch eine Versündigung gegen die Kirche, welche ihm daraufhin ein Begräbnis auf geheiligtem Boden verweigert hätte. Diese Schande sollte der Familie erspart bleiben.
    Es schien nichts weiter unternommen worden zu sein, und ein Einbrecher wurde nie gefaßt. Die Polizei stellte die Ermittlungen ein.
    Eine Woche später traf ein weiterer Brief ein – tatsächlich war er bereits vor zwei Wochen aufgegeben worden –, in dem es hieß, ihre Mutter sei ebenfalls gestorben. Es wurde mit keinem Wort erwähnt, daß sie ein gebrochenes Herz gehabt hatte, aber das war auch nicht nötig.
    »Danke«, sagte Hester und brachte die Andeutung eines Lächelns zustande.
    Callandra betrachtete sie eine Weile, war sensibel genug, ihren Schmerz zu spüren, und begriff, daß er nur schlimmer werden würde, wenn sie weiter in ihren Gast eindrang; Gespräche konnten den Heilungsprozeß nicht mehr fördern. Sie beschloß, das Thema aufs Praktische zu bringen.
    »Und welche Pläne haben Sie jetzt? Schlittern Sie, um Gottes willen, nicht in eine

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