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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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an und konnte sich erst recht nicht beruhigen. Charles rümpfte die Nase, tat das Ganze als typisch Frau und infolgedessen unerklärbar ab und ließ sie allein, wobei er die Tür fest hinter sich ins Schloß zog, damit keiner der Bediensteten Zeuge einer derart lächerlichen Szene werden konnte.
    Für Hester war Reisen nichts Neues, und die Fahrt von London nach Shelburne war wirklich kaum der Rede wert, verglichen mit der fürchterlichen Schiffsreise durch die Bucht von Biscaya, das Mittelmeer, den Bosporus und schließlich das Schwarze Meer hinauf bis Sewastopol. Übervölkerte und mit verängstigten Pferden vollgepfropfte Truppentransporter ohne den geringsten Komfort gehörten zu den Dingen, die das Vorstellungsvermögen der meisten, insbesondere der weiblichen, Engländer überstiegen. Eine Zugfahrt durch hochsommerliche Landstriche war die reine Freude, und die letzten, von Sonnenschein, wohltuender Stille und süßem Blumenduft begleiteten eineinhalb Kilometer im Dogcart nach Shelburne Hall bedeuteten ein Fest für Hester’s Sinne.
    Der leichte Einspänner hielt direkt vor dem Hauptportal mit dem dorischen Säulengang. Der Kutscher kam nicht dazu, ihr vom Wagen zu helfen, denn Hester war an solche Artigkeiten nicht mehr gewöhnt und bereits heruntergestiegen, während er noch die Zügel festband. Stirnrunzelnd lud er ihren Koffer ab, und fast im selben Augenblick öffnete ein Lakai die Tür, um sie Hester aufzuhalten. Ein zweiter Lakai bemächtigte sich des Koffers und verschwand damit im oberen Bereich des Hauses.
    Hester wurde in den Salon geführt, wo Fabia Shelburne sie erwartete. Es war ein ausgesprochen schöner Raum; durch die weit geöffneten Terrassentüren mit Blick auf den Garten und den sich in sanften Hügeln dahinter erstreckenden Park strömte nach Rosen duftende, warme Sommerluft. Angesichts dieser Kulisse wirkte der in Marmor eingelassene Kamin vollkommen deplaziert. Die Gemälde kamen ihr wie Schlüssellöcher vor, durch die man in eine andere, überflüssige Welt spähte.
    Lady Fabia lächelte, als sie Hester erblickte, stand jedoch nicht auf.
    »Willkommen in Shelburne Hall, Miss Latterly. Ich hoffe, die Fahrt hat Sie nicht zu sehr angestrengt. Sie sehen etwas mitgenommen aus! Im Garten ist es wohl sehr windig, fürchte ich. Wenn Sie sich von der Reise erholt und umgezogen haben, möchten Sie vielleicht mit uns zusammen den Nachmittagstee einnehmen? Unsere Köchin versteht sich ausgezeichnet auf süße Pfannkuchen.« Sie lächelte wieder, was auf Hester den Eindruck einer kühlen, gut einstudierten Gebärde machte. »Sie sind bestimmt hungrig, außerdem ist es eine glänzende Gelegenheit, uns besser kennenzulernen. Lady Callandra und meine Schwiegertochter, Lady Shelburne, werden herunterkommen. Sie sind ihr bisher noch nicht begegnet, wenn ich mich recht entsinne?«
    »Nein, Lady Fabia, aber ich freue mich schon darauf.« Hester registrierte, daß Fabia ein dunkelviolettes Kleid trug, eine Farbe, die nicht so düster war wie Schwarz, dennoch häufig mit Trauer in Verbindung gebracht wurde. Abgesehen davon hatte Callandra ihr von Joscelins Tod berichtet. »Mein aufrichtiges Beileid zum Tod Ihres Sohnes. Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist.«
    Fabia wölbte die Brauen und meinte ungläubig:
    »Tatsächlich?«
    Hester war gekränkt. Glaubte diese Frau allen Ernstes, sie wäre die einzige, die einen geliebten Menschen verloren hatte? Wie egozentrisch man in seinem Kummer doch sein konnte.
    »Ja. Ich habe meinen ältesten Bruder auf der Krim verloren und vor wenigen Monaten im Abstand von drei Wochen meinen Vater und meine Mutter«, gab sie vollkommen ruhig zurück.
    »Oh –« Fabia fehlten ausnahmsweise einmal die Worte. Sie hatte Hesters triste Kleidung für eine Reiseerleichterung gehalten. Ihre eigene Trauer nahm sie offenbar dermaßen in Anspruch, daß sie für die anderer Menschen blind war. »Das tut mir leid.«
    Hester lächelte; wenn es von Herzen kam, strahlte ihr Lächeln immense Wärme aus.
    »Danke. Und jetzt würde ich gern Ihrer ausgezeichneten Idee Folge leisten und mir etwas Passenderes anziehen, ehe ich Ihre Einladung zum Tee annehme. Sie haben absolut recht – schon bei dem Gedanken an Pfannkuchen knurrt mir der Magen.«
    Das ihr zugedachte Schlafzimmer lag im Westflügel, wo sich auch Callandras Schlaf und Wohnräume befanden, seit sie dem Kinderzimmer entwachsen war. Sie war gemeinsam mit ihren älteren Brüdern in Shelburne Hall aufgewachsen. Vor dreißig

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