Das Gesicht des Fremden
Ehe!«
Hester wunderte sich ein wenig über diesen unorthodoxen Rat, erwiderte jedoch mit selbstkritischer Offenheit: »Die Gefahr besteht kaum. Ich bin fast dreißig, ein gutes Stück zu groß, habe kein besonders erbauliches Wesen und obendrein weder Geld noch Beziehungen. Jeder Mann, der mich heiraten wollte, wäre hochgradig suspekt, was seine Beweggründe oder sein Urteilsvermögen anbelangt.«
»Die Welt ist nicht gerade knapp an Männern mit der einen oder anderen Unzulänglichkeit«, erwiderte Callandra lächelnd.
»Worauf Sie mich selbst des öfteren in Ihren Briefen hingewiesen haben. Beim Militär scheint es jedenfalls von Männern, deren Beweggründen Sie mißtrauen und deren Urteilsvermögen Ihnen ein Greuel ist, nur so zu wimmeln.«
Hester schnitt eine Grimasse. »Touche. Trotzdem, wenn’s um ihre eigenen Interessen geht, beweisen sie gelegentlich erstaunlich viel Verstand.« Ihre Gedanken schweiften zu einem der Militärchirurgen im Lazarett ab. Sie sah sein erschöpftes Gesicht vor sich, das unerwartet durchbrechende Lächeln, erinnerte sich, wie schön es gewesen war, seinen Händen bei der Arbeit zuzusehen. Eines schrecklichen Morgens während der Belagerung hatte sie ihn zum Redan begleitet. Für einen kurzen Augenblick stieg Hester wieder der Leichen und Schießpulvergeruch in die Nase, glaubte sie, die bittere Kälte zu spüren. Die Nähe, die Vertrautheit zwischen ihnen war so groß gewesen, daß sie alles andere wettmachte – und dann kam jener furchtbare Moment, jenes entsetzlich flaue Gefühl im Magen, als er zum erstenmal von seiner Frau sprach. Sie hätte es wissen müssen, sie hätte daran denken sollen – aber sie hatte es nicht getan.
»Ich müßte entweder ungeheuer schön oder ungeheuer hilflos sein, am besten beides, damit sie mir in Scharen die Türen einrennen würden. Sie wissen genausogut wie ich, daß ich keins von beidem bin.«
Callandra sah sie scharf an. »Höre ich da einen Anflug von Selbstmitleid heraus, Hester?«
Hester spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, womit sich jede Antwort erübrigte.
»Sie werden lernen müssen, dieses Gefühl zu überwinden«, meinte Callandra, während sie sich tiefer in ihren Sessel rutschen ließ. Ihre Stimme klang sehr sanft; sie enthielt nicht die leiseste Spur von Tadel, sondern brachte lediglich eine Tatsache zum Ausdruck. »Viel zuviel Frauen blasen ihr Leben lang Trübsal, weil sie etwas nicht haben, von dem ihnen andere Leute einreden, sie würden es unbedingt brauchen. Fast alle verheirateten Frauen werden Ihnen erzählen, die Ehe wäre ein gesegneter Zustand, und Sie zutiefst bedauern, weil Sie nicht in diesen Genuß kommen. Das ist kompletter Blödsinn! Ob man glücklich ist oder nicht, hängt zwar auch von den äußeren Umständen ab, zum größten Teil aber davon, wie man sich selbst entscheidet, die Dinge zu sehen – und wie man selbst beurteilt, was man hat oder auch nicht.«
Hester runzelte die Stirn; sie wußte nicht recht, wieviel sie von Callandras Worten verstand beziehungsweise glauben sollte.
Die wurde etwas ungeduldig, beugte sich ruckartig vor und sagte ebenfalls stirnrunzelnd: »Mein liebes Kind, glauben Sie denn, jede Frau mit einem lächelnden Gesicht ist tatsächlich glücklich? Niemand, der halbwegs bei Sinnen ist, läßt sich gern von andern bemitleiden, und der beste Weg, das zu vermeiden, ist, seine Probleme für sich zu behalten und eine unbeschwerte Miene aufzusetzen. Dann denkt der Rest der Welt, man wäre so selbstzufrieden, wie man aussieht. Also: bevor Sie in Selbstmitleid versinken, sollten Sie sich Ihre Mitmenschen erst einmal genauer ansehen. Hinterher entscheiden Sie, mit wem Sie tauschen möchten oder könnten und wieviel von Ihrer persönlichen Freiheit Sie dafür zu opfern bereit sind. So wie ich Sie kenne, wohl herzlich wenig.«
Hester ließ sich das eine Weile durch den Kopf gehen. Schließlich nahm sie geistesabwesend die Füße aus dem Wasser und begann sie mit einem der Handtücher abzutrocknen.
Callandra erhob sich. »Kommen Sie zum Tee in den Salon? Wenn mich mein Gedächtnis nicht täuscht, ist er ausgezeichnet – genau wie Ihr Appetit. Anschließend besprechen wir, welche Möglichkeiten Sie haben, um Ihre Talente am sinnvollsten einzusetzen. Es gibt jede Menge zu tun; auf allen möglichen Gebieten sind dringend Reformen nötig, und Ihre Erfahrung und Ihr Engagement dürfen auf keinen Fall brachliegen.«
»Danke, das ist sehr nett.« Hester fühlte sich plötzlich
Weitere Kostenlose Bücher