Das Gesicht des Fremden
schockieren, erlebte er eine Enttäuschung.
Sie schluckte schwer und hielt seinem Blick stand. »Klingt ganz nach dem Schlachtfeld bei Inkerman. Nur daß wir dort wußten, was den Leuten zugestoßen war – wenn auch keiner einen Schimmer hatte, warum!«
»Wir wissen genau, was ihm zugestoßen ist, aber wir wissen nicht, wer es getan hat. Glücklicherweise muß ich nicht den Krimkrieg rechtfertigen, sondern nur Joscelin Greys Tod klären.«
»Was Ihre Fähigkeiten bei weitem zu übersteigen scheint«, versetzte sie barsch. »Ich kann Ihnen auch nicht weiterhelfen. Ich weiß nur, daß er sympathisch war, daß er seine Verwundung mit der gleichen Tapferkeit getragen hat wie die meisten und daß er, als es ihm wieder besser ging, den Großteil seiner Zeit damit verbrachte, von Bett zu Bett zu gehen, um die andern aufzuheitern, insbesondere die, die nicht mehr lang zu leben hatten. Wenn ich so darüber nachdenke, war er sogar ein ziemlich bewundernswerter Mensch. Er hat sich verstärkt um die gekümmert, die im Sterben lagen, und ihre Familien später dann mit einem Brief über ihren Tod informiert, vermutlich auf sehr schonende Art. Es ist wirklich tragisch, daß er das alles überlebt haben soll, um hier ermordet zu werden.«
»Es war ein unglaublich brutaler Mord. Die Art und Weise, wie er erschlagen wurde, läßt auf enormen Haß schließen.« Er beobachtete sie scharf, und Hester war verblüfft, wieviel Intelligenz dieser unangenehm durchdringende Blick verriet – weitaus mehr, als sie ihm zugetraut hätte. »Ich glaube, daß er den Mörder gekannt hat. Man haßt keinen Fremden so sehr, wie er gehaßt wurde.«
Sie schauderte. So furchtbar es auf den Schlachtfeldern auch zugegangen sein mochte – es gab einen riesigen Unterschied zwischen dem hirnlosen Gemetzel auf der Krim und der persönlichen Böswilligkeit, die zu Joscelin Greys Tod geführt hatte.
»Es tut mir leid«, sagte sie etwas freundlicher, doch nach wie vor in dem steifen Ton, den er bei ihr hervorrief, »aber ich weiß wirklich nichts über ihn, das Ihnen einen Hinweis auf eine solche Bekanntschaft geben könnte. Wenn doch, würde ich es Ihnen sagen. Das Krankenhaus hat die Akten sämtlicher Verwundeter aufgehoben. Sie könnten also auf diese Weise herausfinden, wer zur selben Zeit dort war, aber das haben Sie bestimmt längst getan.« Sie sah einen Schatten über sein Gesicht gleiten und wußte im selben Moment, daß er es nicht getan hatte. Ihre Geduld war am Ende. »Um Himmels willen, was haben Sie denn gemacht in den vergangenen acht Wochen?«
»Fünf davon mußte ich mich selbst von einer Verletzung erholen«, blaffte er zurück. »Sie ziehen zu viele voreilige Schlüsse, Madame. Sie sind arrogant, anmaßend, übellaunig und herablassend – außerdem stellen Sie Hypothesen auf, die jeglicher Grundlage entbehren. Bah! Ich hasse kluge Frauen!«
Hester war für den Bruchteil einer Sekunde wie erstarrt, dann hatte sie die passende Antwort parat.
»Und ich liebe kluge Männer!« Ihre Augen wanderten verächtlich an ihm auf und ab. »Anscheinend sollen wir wohl beide enttäuscht werden.« Daraufhin raffte sie die Röcke und marschierte energisch an ihm vorbei auf das Wäldchen zu, wobei sie über den Ausläufer eines Brombeerstrauchs stolperte.
»Verdammt!« fluchte sie erbost. »Tod und Teufel auch!«
7
»Guten Morgen, Miss Latterly«, sagte Fabia kühl, als sie am folgenden Morgen gegen Viertel nach zehn im Wohnzimmer erschien. Sie sah elegant und zerbrechlich aus und war bereits zum Ausgehen angezogen. Nachdem sie mit einem flüchtigen Blick auf Hester deren schlichtes Musselinkleid zur Kenntnis genommen hatte, wandte sie sich Rosamond zu, die an ihrem Stickrahmen herumstocherte. »Guten Morgen, Rosamond. Du fühlst dich hoffentlich wohl? Es ist ein sehr schöner Tag. Ich glaube, wir sollten die Gelegenheit nutzen, um den weniger vom Glück verwöhnten Dorfbewohnern einen Besuch abzustatten. Wir haben es lange nicht mehr getan, und du bist im Grunde noch mehr dazu verpflichtet als ich, meine Liebe.«
Rosamonds Wangen wurden eine Spur röter, während sie den Rüffel demütig hinnahm. Sie reckte lediglich das Kinn ein wenig, und Hester fragte sich, ob vielleicht mehr hinter dieser Gebärde steckte, als man auf den ersten Blick annahm. Die ganze Familie war in Trauer, aber Fabia hatte der Verlust eindeutig am stärksten getroffen – zumindest für den außenstehenden Beobachter. Hatte Rosamond das normale Leben für ihren Geschmack zu
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