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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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oder Miss Ames ehelichen würde, zum Angriff entschloß.
    »Miss Ames ist eine prachtvolle junge Dame«, bemerkte er an Hester gewandt. »Eine unglaublich gute Reiterin, nimmt’s bei der Fuchsjagd mit jedem Mann auf. Hat sehr viel Mut. Und sieht gut aus – verteufelt gut!« Er warf einen säuerlichen Blick auf ihr dunkelgrünes Kleid. »Ihr Großvater fiel im Peninsularkrieg, 1810 bei Coruna. Da waren Sie wohl nicht, nehme ich an, oder, Miss Latterly? Ein bißchen vor Ihrer Zeit, was?« Er lächelte absolut unschuldig.
    »1809«, korrigierte Hester. »Es war vor Talavera und nach Vimiero und dem Abkommen von Cintra. Ansonsten haben Sie vollkommen recht – dort war ich nicht.«
    Das Gesicht des Generals lief dunkelrot an. Er verschluckte sich an einer Gräte und hielt sich hustend die Serviette vor den Mund.
    Fabia reichte ihm weiß vor Zorn ein Glas Wasser.
    Hester, die es besser wußte, stellte es augenblicklich weg und ersetzte es durch ein Stück Brot.
    Der General aß das Brot, die Gräte rutschte seine Kehle hinunter.
    »Danke«, sagte er eisig und nahm zusätzlich einen Schluck Wasser.
    »Oh, es freut mich, daß ich helfen konnte«, flötete Hester. »Es ist äußerst unangenehm, wenn man eine Gräte verschluckt, und es passiert so leicht, egal wie gut der Fisch ist – und dieser hier ist wirklich köstlich.«
    Fabia murmelte etwas Unverständliches und Gotteslästerliches, während sich Rosamond in überschwengliche Betrachtungen über die allsommerliche Gartenparty des Pfarrers rettete.
    Als Fabia sich später entschieden hatte, bei Ursula und dem General zu verweilen, und Rosamond Hester mehr oder minder zum Einspänner schubste, damit sie mit den Armenbesuchen fortfahren konnten, flüsterte sie ihr atemlos und ein wenig befangen zu: »Das war phantastisch! Manchmal erinnern Sie mich an Joscelin. Er konnte mich genauso zum Lachen bringen.«
    »Ist mir gar nicht aufgefallen, daß Sie gelacht haben«, erwiderte Hester wahrheitsgetreu, während sie hinter Rosamond auf den Kutschbock kletterte.
    »Natürlich nicht, wo denken Sie hin!« Rosamond nahm die Zügel und trieb das Pferd an. »Man läßt sich das nicht anmerken. Sie werden doch wiederkommen, nicht wahr?«
    »Ich bin mir nicht sicher, ob man mich noch mal einladen wird«, gab Hester reuevoll zurück.
    »O doch, man wird. Tante Callandra wird Sie einladen. Sie mag Sie sehr – manchmal glaube ich, wir langweilen sie alle zu Tode. Kannten Sie Colonel Daviot eigentlich?«
    »Nein.« Zum erstenmal bedauerte Hester diesen Umstand. Sie hatte lediglich ein Porträt von ihm gesehen; es zeigte einen untersetzten Mann mit kerzengerader Haltung und einem markanten, intelligenten und charaktervollen Gesicht. »Leider nicht.«
    Rosamond trieb ihr Pferd noch schneller an, bis sie schließlich in beträchtlichem Tempo und mit klappernden Rädern über den unebenen Boden jagten.
    »Er konnte sehr nett sein«, sagte sie, ohne den Blick von der Fahrspur zu wenden. »Wenn er wollte. Wenn er glücklich war, hatte er ein ungeheuer ansteckendes Lachen – aber zuweilen war er auch eklig und furchtbar herrschsüchtig, sogar Tante Callandra gegenüber. Er mischte sich ständig ein, schrieb ihr vor, wie sie was zu tun hatte – bis ihn wieder eine seiner Marotten packte. Dann ließ er alles stehen und liegen, und sie durfte das Chaos beseitigen.«
    Rosamond zog leicht die Zügel an, damit sie das Pferd besser unter Kontrolle bekam.
    »Im Grunde hatte er ein gutes Herz; wenn man sein Freund war, konnte man sich völlig auf ihn verlassen. Außerdem war er der beste Reiter, den ich je gesehen habe, wesentlich besser als Menard oder Lovel – und General Wadham.« Der Wind verwüstete ihre Frisur, was sie jedoch nicht zu stören schien. Statt dessen kicherte sie ausgelassen. »Sie konnten sich nicht ausstehen.«
    Hester entwickelte allmählich ein neues Verständnis für Callandra und deren einsames und freies Leben. Sie begriff, warum sie nie mit dem Gedanken gespielt hatte, wieder zu heiraten. Wer konnte schon einem derart außergewöhnlichen Mann das Wasser reichen? Vielleicht hatte sie im Lauf der Zeit gelernt, die Unabhängigkeit zu genießen, vielleicht war sie aber auch unglücklicher, als ihre Äußerungen vermuten ließen.
    Hester lächelte, ließ Rosamond durch eine beipflichtende Bemerkung wissen, daß sie ihr zugehört hatte, und wechselte das Thema. Wenig später erreichten sie einen kleinen Weiler, wo noch einige Besuche zu absolvieren waren, und es war bereits

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