Das Gesicht des Fremden
Ziel nicht verfehlt. »Gehören Sie zur Familie?« Er starrte sie mit einer Intensität an, die sie als ziemlich unangenehm, fast schon beleidigend empfand.
»Was sollte Sie das interessieren?«
Sein Blick schien sich noch mehr auf sie zu konzentrieren, und dann leuchtete darin plötzlich so etwas wie Wiedererkennen auf, obwohl sie sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, ihm je zuvor begegnet zu sein. Merkwürdig, daß er nichts darüber sagte.
»Ich untersuche den Mordfall Joscelin Grey. Ich wüßte gern, ob Sie ihn gekannt haben.«
»Gütiger Gott!« stieß sie unfreiwillig aus, riß sich aber schnell zusammen. »Man hat mir ja schon jede Menge Taktlosigkeit vorgeworfen, aber Sie sind wirklich eine Klasse für sich! Sie hätten verdient, daß ich jetzt sagen würde, ich sei seine Verlobte gewesen und auf der Stelle in Ohnmacht fiele.«
»Dann muß es aber ein heimliches Verlobungsverhältnis gewesen sein«, konterte er. »Und wenn Sie so für verstohlene Romanzen schwärmen, müßten Sie darauf vorbereitet sein, daß Ihre Gefühle des öfteren verletzt werden.«
»Worauf Sie sich offensichtlich hervorragend verstehen!« Ihr Rock plusterte sich im Wind, während sie reglos dastand und sich immer noch fragte, wieso er glaubte, sie zu kennen.
»Haben Sie ihn gekannt?« wiederholte er hartnäckig.
»Jawohl!«
»Lang?«
»Drei Wochen, wenn ich mich recht entsinne.«
»Ein sonderbarer Zeitraum für eine Bekanntschaft!«
»Was wäre denn Ihrer Ansicht nach eine angemessene Zeit dafür?«
»Drei Wochen sind ziemlich kurz«, setzte er ihr bewußt gönnerhaft auseinander. »Folglich können Sie kaum eine Freundin des Hauses gewesen sein. Haben Sie ihn erst kurz vor seinem Tod kennengelernt?«
»Nein. Ich habe ihn in Skutari kennengelernt.«
»Sie haben was?«
»Hören Sie schlecht? Ich habe ihn in Skutari kennengelernt!« Sie dachte an die ähnlich gönnerhafte Art des Generals, und plötzlich fielen ihr sämtliche Situationen ein, in denen man sie herablassend behandelt hatte. Die Offiziere zum Beispiel, die Frauen beim Militär für vollkommen deplaziert hielten, für Ziergegenstände, die nur zur Entspannung und aus Gründen der Bequemlichkeit recht nützlich waren. Vornehme Damen wurden verhätschelt, beherrscht und vor allem und jedem beschützt – inklusive Abenteuerlust, Entscheidungswut und Freiheitsliebe. Das weibliche Fußvolk bestand aus Huren und Arbeitstieren, die man wie anderes Ungeziefer auch zu behandeln hatte.
»Ach so.« Er nickte stirnrunzelnd. »Er war verwundet. Sind Sie da draußen bei Ihrem Mann gewesen?«
»Nein, bin ich nicht!« Warum tat diese Frage eigentlich ein bißchen weh? »Ich bin dortgewesen, um die Verwundeten zu pflegen, um Miss Nightingale und den andern Frauen zu helfen.«
Auf seinem Gesicht erschien weder die Bewunderung noch der an Ehrfurcht grenzende Respekt, den der Name gemeinhin auslöste, was Hester ein wenig aus der Fassung brachte. Dieser Mann schien sich ehrlich für Joscelin Grey zu interessieren.
»Sie haben Joscelin Grey gepflegt?«
»Ihn und viele andere. Würde es Ihnen etwas ausmachen weiterzugehen? Mir wird langsam kalt.«
»Sicher, gehen wir.« Er folgte ihr den schmalen Pfad entlang, der zu einem Eichenwäldchen führte. »Welchen Eindruck hatten Sie von ihm?«
Hester bemühte sich, ihre eigenen Erinnerungen und das Bild, das sie aufgrund der Äußerungen seiner Familie von Joscelin gewonnen hatte, auseinanderzuhalten.
»Ich erinnere mich besser an sein Bein als an sein Gesicht«, gab sie freimütig zu.
Er starrte sie sichtlich verärgert an.
»Mich interessieren weder ihre weiblichen Phantasien noch Ihr eigenartiger Sinn für Humor, Madame! Es geht hier um einen ungewöhnlich brutalen Mord!«
Jetzt platzte ihr wirklich der Kragen.
»Sie aufgeblasener Idiot! Sie verdorbener, lächerlicher Einfaltspinsel! «brüllte sie in den Wind. »Ich habe ihn gepflegt! Ich habe ihn angezogen und seine Wunde gesäubert, die sich – falls Sie es vergessen haben sollten – an seinem Bein befand! Sein Gesicht war unversehrt, deshalb hat es mich nicht mehr beeindruckt als die Gesichter der restlichen zehntausend Verwundeten und Toten. Ich würde ihn nicht mal wiedererkennen, wenn er geradewegs auf mich zumarschiert käme und mich ansprechen würde.«
Sein Gesicht war verbittert und zornig. »Das wäre in der Tat ein denkwürdiges Ereignis, Madame. Er ist seit acht Wochen tot – zu Brei geschlagen.«
Falls er gehofft haben sollte, sie damit zu
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