Das Gesicht des Fremden
früh wiederaufgenommen, und das war Fabias eigene Art, den Zeitpunkt für gekommen zu erklären?«
»Natürlich, Schwiegermama«, erwiderte Rosamond, ohne aufzublicken.
»Miss Latterly wird sich uns selbstverständlich anschließen«, fuhr Fabia fort, ohne deren Einverständnis abzuwarten. »Um elf Uhr fahren wir los. Sie haben also genug Zeit, sich entsprechend anzuziehen. Es ist recht warm draußen – lassen Sie sich nicht dazu verleiten, Ihren Rang zu vergessen.« Nach dieser mit frostigem Lächeln vorgebrachten Warnung wandte sie sich zum Gehen, blieb jedoch bei der Tür noch einmal stehen und fügte hinzu: »Vielleicht nehmen wir das Mittagessen bei General Wadham und seiner Tochter Ursula ein.« Dann schwebte sie endgültig aus dem Zimmer.
Rosamond schleuderte die Stickerei in ihren Handarbeitskorb, doch sie prallte daran ab und rutschte scheppernd über den Boden. »Verflucht!« sagte das Mädchen mit verhaltener Stimme, fing Hester’s Blick auf und entschuldigte sich eilends.
Hester lächelte und meinte freimütig: »Oh, lassen Sie nur. Bei der Vorstellung, die gute Fee bei den armen Dörflern spielen zu müssen, würde wahrscheinlich jeder in eine Sprache verfallen, die eher in die Stallungen paßt.«
»Fehlt Ihnen die Krim, jetzt, wo Sie wieder zu Hause sind?« fragte Rosamond unvermittelt; sie schaute Hester forschend, beinah furchtsam an, als habe sie Angst vor der Antwort. »Ich meine –« Aber es fiel ihr plötzlich schwer, die Worte auszusprechen, die ihr gerade noch auf den Lippen gelegen hatten, und sie wandte beschämt den Blick ab.
Hester hatte die Vision eines Lebens, das aus endlosen Tagen des Nettseins gegenüber Fabia bestand, aus dem bißchen Haushaltsführung, das Rosamond gestattet war, ohne daß sie dabei jemals das Gefühl hatte, es sei ihr Haus, solange Fabia lebte. Vielleicht würde deren Geist sogar danach noch allgegenwärtig sein. Morgendliche Pflichtbesuche mußten gemacht, das Mittagessen mit Leuten von gleichem Stand eingenommen, die Armen frequentiert werden und während der Saison gab es Bälle, Rennen in Ascot, die Regatta in Henley und im Winter natürlich die Jagd – alles ohne Sinn und Bedeutung.
Aber Rosamond hatte weder eine Lüge erwartet, noch verdiente sie das, was Hester für die grausame Wahrheit hielt. Es war ihre Wahrheit; Rosamond sah es vielleicht ganz anders.
»Ja, manchmal schon«, erwiderte sie. »Aber man kann einen Krieg nicht endlos führen. Es ist eine mindestens genauso furchtbare wie intensive und reale Erfahrung. So verfroren, schmutzig und übermüdet zu sein, daß man sich völlig zerschlagen fühlt, ist nicht besonders lustig – und die Armeerationen sind auch keine Gaumenfreude. Etwas wirklich Nützliches zu tun ist eins der schönsten Dinge im Leben – aber man kann sich bestimmt einen weniger aufreibenden Ort dafür aussuchen, und ich bin sicher, hier in England gibt es für mich davon mehr als genug.«
»Sie sind wirklich nett«, sagte Rosamond sanft und schaute sie wieder an. »Ich hätte nie gedacht, daß Sie sich so viele Gedanken machen.« Sie stand auf. »Wir sollten uns jetzt wohl besser umziehen. Haben Sie etwas Unauffälliges und Unelegantes, aber äußerst Würdevolles dabei?« Rosamond erstickte ein Kichern in einem Niesanfall. »Tut mir leid. Was für eine blöde Frage!«
»Doch, doch – der Großteil meiner Garderobe sieht so aus«, gestand Hester amüsiert. »Lauter reizendes Dunkelgrün und schrecklich fades Blau – wie verblichene Tinte. Geht das?«
»Es könnte gar nicht besser sein. Kommen Sie!«
Menard kutschierte sie in einem offenen Einspänner durch den Park. Bald hatten sie das Anwesen hinter sich gelassen und fuhren durch dichte Kornfelder auf das Dorf zu, dessen Kirchturmspitze sich scharf gegen die dahinter liegende Anhöhe abhob. Es machte ihm großen Spaß, das Pferd zu führen, und er tat es mit dem Geschick eines Menschen, der viel Übung darin hat. Er ging davon aus, daß sie ebensosehr von der Schönheit der Gegend gefangengenommen wurden wie er, und sagte kein einziges Wort.
Hester saß da und sah ihm zu, das Reden überließ sie Fabia und Rosamond. Sie registrierte, mit welcher Leichtigkeit die kräftigen Hände die Zügel hielten, wie geschickt er das Gleichgewicht hielt; er hatte sich völlig in sich zurückgezogen. Seine alltäglichen Pflichten auf dem Anwesen schienen keine Last für ihn zu sein. Während ihres Aufenthalts in Shelburne war ihr zwar gelegentlich ein grüblerischer, bisweilen
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