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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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dadurch näher, egal wie weh es tut.«
    Sie blickte ihm mit einer eigenartigen Sehnsucht nach Verständnis in die Augen. Vielleicht hatte sie das gleiche schon anderen Leuten erklärt, die daraufhin versuchten, sie davon abzubringen, ohne sich bewußt zu sein, daß es für sie keine Erleichterung, sondern einen zusätzlichen Schmerz bedeutete.
    »Das finde ich nicht«, sagte er ruhig. Obwohl er sich in einer vollkommen anderen Situation befand, war auch für ihn jedes Wissen besser als diese Ungewißheit. »In seiner Phantasie beschwört man so viele Dinge herauf, und ehe man nicht weiß, was wirklich geschah, ist jeder einzelne Gedanke eine Tortur.«
    Ihre Augen weiteten sich vor Verblüffung. »Sie verstehen das? Die meisten meiner Freunde wollen mich überreden, die Situation so zu akzeptieren, wie sie ist, aber ich kann das nicht. Die Zweifel lassen mir einfach keine Ruhe. Manchmal – wenn mein Mann nicht zu Hause ist –«, sie wurde rot, »lese ich die Zeitungen. Aber ich bin nicht sicher, wieviel man ihnen glauben kann. Die Berichterstattung ist –«, sie zerknüllte seufzend ihr Taschentuch im Schoß und hielt es krampfhaft fest. »Nun ja, manchmal kommt sie mir etwas schonend vor, damit die Leute sich nicht aufregen oder gar Kritik üben. Außerdem weichen die Darstellungen voneinander ab.«
    »Das glaube ich gern.« Monk spürte eine irrationale Wut über die Verwirrung dieser Frau in sich hochsteigen, wurde von einem plötzlichen Groll auf die schweigende Mehrheit gepackt, die ähnlich wie sie empfand. Da hockten sie hier zu Hause herum, beweinten ihre Toten und ließen sich tatsächlich damit abspeisen, die Wahrheit wäre zu hart für sie. Vielleicht stimmte das sogar, vielleicht hätten viele die Wahrheit nicht ertragen, aber man hätte sie wenigstens fragen können. Man hatte sie vor vollendete Tatsachen gestellt, genauso wie man ihre Söhne vor die Tatsache gestellt hatte, in den Krieg ziehen zu müssen. Und wofür? Er hatte nicht die leiseste Ahnung. Obwohl er in den vergangenen Wochen etliche Zeitungen gelesen hatte, wußte er lediglich, daß das Ganze mit dem Osmanischen Reich und dem politischen Gleichgewicht zusammenhing.
    »Joscelin hat sich immer so – so behutsam ausgedrückt«, fuhr sie fort, ohne ihn aus den Augen zu lassen. »Er hat uns viel über seine Empfindungen erzählt, und Edward muß das gleiche gefühlt haben. Ich hätte nie gedacht, daß es so furchtbar war. Woher soll man das auch wissen, wenn man hier in England sitzt –« Ihr Blick wurde ängstlich, und in ihrem Gesicht zuckte es. »Ich danke Gott, daß Edward, wenn er schon sterben mußte, wenigstens ein schnelles Ende durch eine Kugel oder ein Schwert gefunden hat und nicht an der Cholera hat dahinsiechen müssen. Können Sie das verstehen, Mr. Monk?«
    »Ja«, versicherte er rasch. »Ich verstehe Sie gut, und es tut mir leid, daß ich Sie jetzt obendrein mit Fragen über Major Greys Tod belästigen muß – aber wir müssen seinen Mörder finden.«
    Sie schauderte.
    »Wie kann jemand so grausam sein? Wieviel Böses muß in einem Menschen stecken, daß er einen anderen so brutal erschlagen kann? Raufereien sind mir zuwider, ich kann sie jedoch bis zu einem gewissen Punkt verstehen – aber einen Toten noch zu verstümmeln…! In den Zeitungen stand, er hätte grauenhaft ausgesehen. Mein Mann weiß selbstverständlich nicht, daß ich sie gelesen habe, aber ich fühlte mich einfach dazu verpflichtet; schließlich kannte ich den armen Kerl. Können Sie sich einen Reim darauf machen, Mr. Monk?«
    »Nein. In meiner ganzen Laufbahn habe ich noch kein dermaßen brutales Verbrechen gesehen.« Er wußte zwar nicht genau, ob das stimmte, aber er hatte es im Gefühl. »Irgend jemand muß ihn mit einer Intensität gehaßt haben, die unsereins nur schwer begreifen kann.«
    »Ich kann es mir einfach nicht vorstellen.« Sie schloß die Augen und schüttelte kaum merklich den Kopf. »Diesen Wunsch zu zerstören, zu… zu verunstalten. Armer Joscelin, daß er ausgerechnet einer solchen… Kreatur zum Opfer fallen mußte! Allein bei dem Gedanken, jemand könnte mich derart hassen, würde ich Angst bekommen. Ob der Ärmste es wohl geahnt hat?«
    Auf die Idee war Monk noch gar nicht gekommen. Hatte Joscelin Grey gewußt, wie sehr sein Mörder ihn haßte? Hatte er ihm nur nicht zugetraut, daß er zur Tat schreiten würde?
    »Er kann sich jedenfalls nicht vor ihm gefürchtet haben«, sagte er laut. »Ansonsten hätte er ihn kaum in die Wohnung

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