Das Gesicht des Fremden
ein Plan, den Joscelin ins Auge gefaßt hatte.«
Monk ließ sich das durch den Kopf gehen. Wenn Grey gerade erst dabeigewesen war, eine Gesellschaft zu gründen, und möglicherweise versucht hatte, Dawlish zu einer finanziellen Beteiligung zu überreden, womit hatte er dann bis zu diesem Zeitpunkt seine umfangreichen Lebenshaltungskosten bestritten?
»Ich danke Ihnen.« Er stand auf. »Trotzdem würde ich mich gern mit Mr. Dawlish unterhalten; er kann durchaus über Major Greys Einkünfte im Bilde gewesen sein. Wenn er mit dem Gedanken gespielt hat, in eins seiner Geschäfte einzusteigen, wäre es nur natürlich gewesen, sich vorher dahingehend zu informieren.«
»Ja, da haben Sie wohl recht.« Sie zupfte ohne Erfolg an ihrer Frisur. »So gegen sechs vielleicht.«
Evans Bemühungen bei dem halben Dutzend Bediensteter ergaben außer dem Eindruck eines durch und durch normalen Haushalts nichts Neues. Geführt wurde er von einer stillen, traurigen Frau, die ihren Kummer so tapfer wie möglich trug, ohne daß er jedoch verborgen geblieben wäre. Außerdem war fast jeder selbst persönlich betroffen. Der Butler hatte einen Neffen, der als Fußsoldat in den Krieg gezogen und als Krüppel zurückgekehrt war. Das sechzehnjährige Hausmädchen hatte bei Inkerman seinen älteren Bruder verloren. Evan stellte ernüchtert fest, wie viele andere es gab, die einen geliebten Menschen verloren hatten und dabei ohne das Mitgefühl der Öffentlichkeit auskommen mußten, das Joscelin Greys Familie zuteil wurde.
Die gesamte Belegschaft erinnerte sich an Major Greys einnehmendes Wesen und wußte noch, wie angetan Miss Amanda von ihm gewesen war. Sie hatten gehofft, er würde bald wiederkommen, und waren entsetzt, daß er auf so grausige Art in seiner Wohnung ermordet worden war. Ihre offenkundig zweigleisige Denkweise verwirrte Evan. Einerseits faßten sie es nicht, daß ein Mann von Stand dermaßen scheußlich abgeschlachtet werden konnte, andererseits betrachteten sie ihre eigenen Verluste als relative Belanglosigkeit, die man mit stiller Würde zu tragen hatte.
Er verließ sie mit aufrichtiger Bewunderung für ihre stoische Haltung und einem bohrenden Zorn, weil sie den Klassenunterschied so einfach hinnahmen. Als er dann in die Halle trat, überlegte er, daß es wahrscheinlich die einzige Möglichkeit war, dieses Leben auszuhalten. Alles andere wäre selbstzerstörerisch und im Endeffekt fruchtlos gewesen.
Dawlish war ein stämmiger, recht kostspielig gekleideter Herr mit hoher Stirn und klugen, dunklen Augen, doch die Aussicht auf ein Schwätzchen mit der Polizei schien ihn nicht gerade zu beglücken; er fühlte sich sichtlich unwohl in seiner Haut.
Nach und nach stellte sich heraus, daß er bemerkenswert wenig über das Unternehmen wußte, das er sich bereits halbwegs zu unterstützen bereit erklärt hatte. Offenbar hatte er sich Joscelin Grey persönlich verpflichtet gefühlt und ihm aus diesem Grunde versprochen, seine Gelder sowie seinen guten Namen zur Verfügung zu stellen. »Reizender Bursche«, meinte er, das Gesicht halb abgewandt, während er vor dem Kamin im Salon stand. »Schlimme Sache, wenn man in einer Familie aufwächst und immer zusammengehört, bis der älteste Bruder heiratet und man plötzlich ein Niemand ist.« Er schüttelte verbittert den Kopf. »Verdammt schwierig, seinen Weg zu machen, wenn man für die Kirche ungeeignet und aus der Armee entlassen worden ist. Da bleibt nur eine standesgemäße Heirat.« Er warf Monk einen kurzen Blick zu, um sicherzugehen, daß der ihn verstand. »Keine Ahnung, warum Joscelin es nie getan hat; gut genug ausgesehen hat er bestimmt, und mit Frauen umgehen konnte er auch. War immer charmant, das rechte Wort zur rechten Zeit, na, Sie wissen schon – Amanda hielt große Stücke auf ihn.« Er räusperte sich. »Meine Tochter, wissen Sie. Das arme Ding war ganz verstört durch seinen Tod. Furchtbare Sache! Richtig scheußlich!« Er starrte auf die Glut; Traurigkeit verdunkelte seinen Blick und ließ die Falten um seinen Mund weicher erscheinen. »So ein anständiger junger Mann. Hätte eigentlich damit gerechnet, daß es ihn auf der Krim erwischt – gib dein Leben für dein Vaterland und so, Sie wissen schon –, aber das hier…? Den ersten Verehrer hat sie in Sewastopol verloren, das arme Kind, dann natürlich ihren Bruder in Balaklawa. Dort hatten der junge Grey und er sich kennengelernt.« Er schluckte schwer und blickte trotzig zu Monk auf, als würde er seinen
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