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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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eigenen Gefühlen die Stirn bieten wollen. »War ein verdammtes Glück!« Er holte tief Luft und kämpfte mit Mühe seine schmerzhaften Erinnerungen nieder.
    »Die beiden haben sich in der Nacht vor der Schlacht miteinander unterhalten. Gute Sache, jemand zu kennen, der in der Nacht vor seinem Tod mit Edward zusammen war. War ein großer –« Er räusperte sich wieder und mußte den Blick abwenden; in seinen Augen standen Tränen. »War ein großer Trost für meine Frau und mich. Hat sie furchtbar mitgenommen, die Arme. Einziger Sohn und so, Sie wissen schon. Fünf Töchter – und dann das!«
    »Soviel ich weiß, war Menard Grey ebenfalls eng mit ihrem Sohn befreundet«, sagte Monk, um das Schweigen zu überbrücken.
    Dawlish schien völlig in den Anblick der Kohlen vertieft.
    »Unangenehmes Kapitel, das. Spreche nicht gern darüber«, brachte er mühsam und mit rauher Stimme hervor. »Habe eigentlich immer viel von Menard gehalten, aber er hat Edward auf dumme Gedanken gebracht – daran besteht kein Zweifel. Es war Joscelin, der seine Schulden bezahlt hat, damit er wenigstens nicht in Schande sterben mußte.«
    Er schluckte krampfhaft. »Joscelin ist uns sehr ans Herz gewachsen, obwohl er nur wenige Tage hier bei uns verbracht hat.« Er nahm den Feuerhaken aus der Halterung und begann, heftig in der Glut zu stochern. »Ich bete zu Gott, daß Sie den Unmensch finden, der ihn auf dem Gewissen hat.«
    »Wir tun, was wir können, Sir.« Monk hätte gern mehr gesagt, um sein Bedauern über soviel sinnloses Leid auszudrücken.
    Dawlish sah ihn erwartungsvoll an. Der Mann rechnete augenscheinlich damit, daß er etwas sagte, irgendeine gefällige Phrase von sich gab.
    »Ich bedaure sehr, daß Ihr Sohn auf diese Weise sein Leben lassen mußte«, meinte Monk schließlich und streckte spontan die Hand aus. »Und in so jungen Jahren. Wenigstens konnte Joscelin Grey Sie überzeugen, daß er tapfer und würdevoll starb und nicht lange zu leiden hatte.«
    Dawlish ergriff die Hand, ehe er groß zum Nachdenken kam.
    »Ich danke Ihnen.« Er errötete leicht und war sichtlich gerührt. Erst als Monk längst verschwunden war, ging ihm auf, daß er einem Polizisten so ungeniert die Hand geschüttelt hatte, als wäre er ein Mann von Stand.
    Am folgenden Abend machte Monk sich zum erstenmal Gedanken über Grey, die persönlicherer Natur waren. Er saß in seinem Wohnzimmer, in dem es, abgesehen von den schwach heraufdringenden Straßengeräuschen, absolut still war. Durch die kleinen Aufmerksamkeiten den Dawlishs gegenüber und durch die Tatsache, daß er für die Schulden eines Toten aufgekommen war, hatte der Schemen Grey beträchtlich mehr an Dichte gewonnen als durch Schwärmereien seiner Mutter oder die erfreulichen, doch recht gehaltlosen Erinnerungen seiner Nachbarn. Er war plötzlich ein Mann, dessen Vergangenheit durch mehr geprägt wurde als ein bequemes Leben auf Shelburne Hall.
    Nachdem er die erfrorenen Körper auf den Hügeln vor Sewastopol, das Blutbad von Balaklawa, den Dreck und die Seuchen in Skutari gesehen hatte, brachte er nicht mehr viel Geduld für die gesellschaftlichen Nichtigkeiten auf.
    Unten auf der Straße polterte ein Wagen vorbei. Jemand schrie etwas, woraufhin brüllendes Gelächter erscholl.
    Monk wurde auf einmal von dem gleichen unbestimmten Ekel befallen, den Grey bei seiner Rückkehr nach England empfunden haben mußte.
    Etwas Ähnliches hatte er nach einem Besuch in den »Rookeries« verspürt, jenen höllenartigen, verrotteten Elendsvierteln, in denen es von Ungeziefer und Krankheitserregern nur so wimmelte – und die manchmal lediglich ein paar Dutzend Meter von den hellerleuchteten Prachtstraßen entfernt lagen, auf denen vornehme Herrschaften in vornehmen Kutschen von einem vornehmen Haus zum nächsten eilten. Er hatte dort fünfzehn bis zwanzig Personen in einem Raum zusammengepfercht gesehen, Männer, Kinder, Frauen, ohne Ofen oder sanitäre Einrichtungen. Er hatte acht bis zehnjährige Kinder gesehen, die sich zur Prostitution anboten, mit Augen, so müde und alt wie die Sünde, und Körpern, die von Geschlechtskrankheiten zerfressen waren. Und er hatte fünfjährige und noch jüngere gesehen, die erfroren im Rinnstein lagen, weil es ihnen nicht gelungen war, Unterkunft für eine Nacht zu erbetteln. Kein Wunder, daß sie stahlen oder das einzige verkauften, was sie besaßen – ihren Körper.
    Wie konnte er das wissen, wo ihm das Gesicht seines eigenen Vaters nach wie vor ein Rätsel war?

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