Das Gesicht des Fremden
hatte es aus dem inneren Frieden geschlossen, den Callandra ausstrahlte.
Und jetzt wurde ihr plötzlich klar, wie voreilig sie sich zu dieser Schlußfolgerung hatte hinreißen lassen.
Callandra mußte ihr die Gedanken angesehen haben. Sie lächelte etwas schief und verzog amüsiert das Gesicht.
»Sie haben eine ordentliche Portion Mut, Hester, und sind obendrein von einer Lebenslust beseelt, die ein weit größerer Segen ist, als Sie annehmen – aber manchmal sind Sie unglaublich naiv. Das Elend hat viele Gesichter – genau wie das Glück –, und Sie dürfen sich auf keinen Fall dazu verleiten lassen, aufgrund Ihrer Kenntnis des einen den Wert des anderen so zu konstruieren, wie es Ihnen in den Kram paßt. Sie werden von dem starken, ja leidenschaftlichen Verlangen getrieben, den Menschen ein besseres Dasein zu ermöglichen. Seien Sie sich stets bewußt, daß Sie einen Menschen nur dann wirklich weiterbringen können, wenn Sie ihm helfen, so zu werden, wie er ist, nicht wie Sie sind. Ich habe Sie des öfteren sagen hören:
›Wenn ich Sie wäre, würde ich dieses oder jenes tun.‹ – Ich bin niemals Sie, und meine Art und Weise, ein Problem zu lösen, entspricht nicht unbedingt Ihrer.«
Hester mußte an den Polizisten denken, der ihr an den Kopf geworfen hatte, sie sei herrschsüchtig und anmaßend und derlei unangenehme Charaktereigenschaften mehr.
Callandras Lächeln vertiefte sich. »Eins dürfen Sie nie vergessen: Sie müssen es mit der Welt aufnehmen, wie sie ist, nicht wie sie Ihrer Meinung nach sein sollte. Man kann auch mit einem Quentchen Schmeichelei eine Menge erreichen, ohne gleich in die Offensive zu gehen. Hören Sie auf, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, was Sie wirklich wollen, legen Sie lieber die Wut und die Eitelkeit ab, die Sie behindern. Unsre Urteilskraft wird sooft von unsren Gefühlen getrübt – und dann bilden wir uns auch noch ein, wir kämen zu einem völlig anderen Ergebnis, wenn wir nur noch ein Detail mehr wüßten.«
Hester war versucht, in Gelächter auszubrechen.
»Jaja, ich weiß«, sagte Callandra rasch. »Ich sollte selber üben, was ich predige! Aber glauben Sie mir, wenn mir etwas wirklich am Herzen liegt, bringe ich auch die Geduld auf, den rechten Augenblick abzupassen und mir zu überlegen, wie ich es am geschicktesten anstelle.«
»Ich wird’s versuchen«, versprach Hester und meinte es ernst.
»Dieser garstige Polizist wird auf keinen Fall recht behalten – ich werde es nicht zulassen.«
»Wie bitte?«
»Wir sind uns zufällig bei einem Spaziergang begegnet. Er meinte, ich wäre anmaßend und dickköpfig, etwas in der Art jedenfalls.«
Callandras Augenbrauen schossen ruckartig in die Höhe; sie versuchte gar nicht erst, ernst zu bleiben..
»Ach, tatsächlich? Was für eine Unverschämtheit! Und was für eine rasche Auffassungsgabe – nach so kurzer Bekanntschaft. Und was halten Sie von ihm, wenn ich fragen darf?«
»Ich halte ihn für einen unfähigen, unbeschreiblichen Einfaltspinsel!«
»Was Sie ihn zweifelsohne wissen ließen?«
Hester funkelte sie wütend an. »Was glauben Sie denn!«
»Genau das. Trotzdem denke ich, er hatte mehr Recht dazu als Sie. Ich halte ihn nicht für unfähig. Man hat ihm eine Aufgabe gegeben, die extrem schwer zu lösen ist. Es gibt eine Menge Leute, die etwas gegen Joscelin gehabt haben könnten, und es wird für einen Polizisten ungemein schwierig sein herauszufinden, wer der Täter war. Gar nicht dran zu denken, wenn es erst ans Beweisen geht!«
»Soll das heißen, Sie glauben –« Hester ließ den angefangenen Satz unvollendet.
»Allerdings! Aber jetzt lassen Sie uns besprechen, was wir Ihretwegen unternehmen sollen. Ich werde, wie gesagt, einigen Freunden schreiben, und wenn es Ihnen gelingt, Ihre Zunge im Zaum zu halten, was Ihre Meinung über Männer im allgemeinen und die Generäle der Armee Ihrer Majestät im besonderen betrifft, habe ich große Hoffnung, daß wir einen Platz in der Krankenhausverwaltung für Sie finden werden, der nicht nur Sie zufriedenstellt, sondern auch die Menschen, die durch ihre Krankheit bereits gestraft genug sind.«
»Vielen Dank. Das ist furchtbar nett.« Hester blickte einen Moment lang auf ihre im Schoß gefalteten Hände, hob dann jäh den Kopf und schaute Callandra mit blitzenden Augen an.
»Wissen Sie, ich habe gar nichts dagegen, zwei Schritte hinter einem Mann zu gehen – wenn es nur einen geben würde, der mir zwei Schritte voraus ist! Ich hasse es einfach, daß
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