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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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zerrte mehr an seinen Nerven, als er sich bisher eingestanden hatte. Manchmal schreckte er nachts aus dem Schlaf, weil er von undefinierbaren Ängsten und Zweifeln gequält wurde, doch je mehr er versuchte, Licht in die Ungewißheit zu bringen, desto hartnäckiger wurde ihm der Zugang zu seiner Vergangenheit verweigert.
    Wo hatte er seine zurückhaltende, präzise Ausdrucksweise gelernt? Wer hatte ihm seine angenehmen Umgangsformen beigebracht, ihm gezeigt, wie man sich bewegte und kleidete wie ein Edelmann? Oder hatte er lediglich jahrelang nachgeäfft, was von Rang und Namen war? Tief in seinem Gedächtnis regte sich eine vage Erinnerung, daß es tatsächlich einen Mentor gegeben hatte, einen Menschen, der weder Zeit noch Mühe scheute – doch er konnte ihn nicht sehen, konnte ihn nicht hören, erinnerte sich bloß an stundenlanges Lernen und Üben.
    Die Leute, die ihnen etwas Neues über Joscelin zu sagen hatten, waren die Dawlishs. Ihr Haus lag in Primrose Hill, nicht weit vom zoologischen Garten entfernt, und Monk und Evan machten sich gleich am Tag nach ihrer Rückkehr aus Shelburne auf den Weg dorthin. Sie wurden von einem Butler empfangen, der so gut geschult war, daß er sich nicht einmal bei dem sensationellen Anblick zweier Polizisten am Haupteingang auch nur die geringste Überraschung anmerken ließ. Mrs. Dawlish erwartete sie im Damenzimmer. Sie war eine kleine, sanftmütig aussehende Frau mit blaßbraunen Augen und einer widerspenstigen Haarpracht, die auf permanentem Kriegsfuß mit den Haarnadeln zu stehen schien.
    »Mr. Monk?« Sein Name sagte ihr offensichtlich nichts. Monk machte eine leichte Verbeugung.
    »Ja, Ma’am – und Mr. Evan. Dürfte Mr. Evan vielleicht mit den Bediensteten sprechen und versuchen, etwas Hilfreiches von Ihnen zu erfahren?«
    »Ich wüßte zwar nicht was, Mr. Monk, aber solang er sie nicht von der Arbeit abhält, darf er das natürlich tun.«
    »Vielen Dank, Ma’am.« Evan stürmte eifrig von dannen, während Monk abwartend dastand.
    »Es geht um den armen Joscelin Grey?« Mrs. Dawlish war durcheinander und etwas nervös, anscheinend jedoch nicht abgeneigt zu helfen. »Was soll ich dazu sagen? Es war eine furchtbare Tragödie. Wir kannten ihn noch nicht sehr lang, müssen Sie wissen.«
    »Wie lang, Mrs. Dawlish?«
    »Ungefähr fünf Wochen, dann… dann ist er gestorben.« Sie setzte sich, und er war froh, ihrem Beispiel folgen zu dürfen.
    »Ja, es kann nicht länger gewesen sein.«
    »Trotzdem luden Sie ihn in Ihr Haus ein? Tun Sie das oft, wenn Sie jemand erst so kurz kennen?«
    Sie schüttelte den Kopf, wobei sich eine weitere Haarsträhne löste und unordentlich herunter hing; sie kümmerte sich nicht darum.
    »Nein, nie. Aber er war schließlich Menard Greys Bruder –« Sie sah plötzlich ganz elend aus, als wäre sie aus dem Hinterhalt überfallen und an einer Stelle getroffen worden, die sie in Sicherheit wähnte. »Und Joscelin war so charmant, so natürlich … Außerdem war er auch ein Bekannter von Edward, meinem Ältesten. Er fiel bei Inkerman.«
    »Mein aufrichtiges Beileid.«
    Ihr Gesicht war starr, und Monk fürchtete einen Moment, sie würde die Nerven verlieren. Er sprach schnell weiter, um ihr über das peinliche Schweigen hinwegzuhelfen.
    »Sie sagten ›auch‹ – kannte Menard Grey Ihren Sohn?«
    »O ja. Die beiden waren gute Freunde, schon seit Jahren.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Seit der Schulzeit.«
    »Und deshalb forderten Sie Joscelin auf, einige Tage bei Ihnen zu verbringen?« Monk wartete ihre Antwort nicht ab, sie war ohnehin unfähig zu sprechen. »Das ist verständlich.« Da kam ihm plötzlich eine ganz neue Idee, die ihn mit wilder Hoffnung erfüllte. Hatte der Mord eventuell gar nichts mit einem aktuellen Skandal, sondern mit dem Krieg, mit einem Zwischenfall an der Front zu tun? Ja, das war durchaus möglich. Warum war er nicht eher darauf gekommen!
    »Ja«, sagte Mrs. Dawlish ruhig; sie hatte sich wieder in der Gewalt. »Wir wollten mit ihm sprechen, weil er Edward aus dem Krieg kannte, wollten hören, was er zu erzählen hatte. Wissen Sie hier bei uns bekommt man so wenig von dem mit, was dort wirklich geschah.« Sie holte tief Luft. »Ich habe keine Ahnung, ob es tatsächlich hilft, in mancherlei Hinsicht wird es sogar schlimmer, aber wir… wir fühlen uns einfach weniger abgeschnitten. Ich weiß, daß Edward tot ist, daß es für ihn jetzt keine Rolle mehr spielt; es klingt unlogisch, aber ich fühle mich ihm

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