Das Gesicht des Fremden
man durch Konventionen gezwungen wird, so zu tun, als ob man lahm wäre, nur damit jemand anders nicht in seiner Eitelkeit verletzt wird.«
Callandra schüttelte belustigt und traurig zugleich den Kopf.
»Ich weiß. Vielleicht müssen Sie erst ein paarmal hinfallen und sich von jemand anderem wieder auf die Beine helfen lassen, um einen ausgeglicheneren Schritt zu finden. Aber machen Sie nicht den Fehler, nur deshalb langsam zu gehen, weil Sie nicht allein gehen wollen – niemals! Selbst Gott würde nicht verlangen, daß Sie sich unterjochen lassen und als Konsequenz gleich zwei Menschen auf einmal ins Unglück stürzen; Gott wahrscheinlich am allerwenigsten!«
Hester lehnte sich zurück, zog die Knie an und umklammerte sie auf wenig damenhafte Weise. »Ich wette, ich werde noch oft hinfallen und eine schrecklich dumme Figur dabei machen – und einer Menge Leute, die mich nicht mögen, zur Erheiterung dienen. Aber das ist immer noch besser, als es gar nicht zu versuchen.«
»Genau«, bestätigte Callandra. »Sie würden es allerdings sowieso tun, da mache ich mir keine Sorgen.«
8
Die ergiebigsten Informationen über Joscelin Grey erhielten sie bei einer der letzten Adressen von Personen aus seinem Bekanntenkreis; sie stammte nicht von Lady Fabias Liste, sondern hatte auf einem der Briefe in Greys Wohnung gestanden. Evan und Monk hatten sich über eine Woche in der Gegend um Shelburne aufgehalten und sich unter dem Vorwand, einem auf Landhäuser spezialisierten Juwelendieb auf den Fersen zu sein, unauffällig umgehört. Sie hatten etwas mehr über Joscelins Lebenswandel erfahren, zumindest während der Zeit, die er auf Shelburne Hall verbrachte. Außerdem hatte Monk eines schönen Tages das Pech gehabt, ausgerechnet mit der Frau zusammenzustoßen, die mit Mrs. Latterly in der Marylebone-Kirche gewesen war. Wahrscheinlich war es nicht so verwunderlich, aber ihn hatte die Begegnung völlig aus der Bahn geworfen. Die ganze emotionsgeladene Episode in der Kirche war an jenem Tag im Park von Shelburne Hall wieder auferstanden.
Wie sich herausstellte, gab es nicht den geringsten Grund, weshalb sie die Greys nicht hätte besuchen sollen. Sie war eine gewisse Miss Hester Latterly, die als Krankenpflegerin auf der Krim gewesen und mit Lady Callandra Daviot befreundet war. Laut ihrer recht unfreundlichen Ausführungen hatte sie Joscelin Grey zur Zeit seiner Verwundung flüchtig gekannt. Es war natürlich, daß sie nach ihrer Heimkehr persönlich vorbeikam, um der Familie ihr Beileid auszudrücken – und genauso sicher entsprach es ihrem Charakter, einen Polizisten über alle Maßen grob zu behandeln.
Aber er hatte es ihr, getreu der Devise »Jedem das Seine«, mit gleicher Münze zurückgezahlt und beträchtliche Genugtuung daraus geschöpft. Der Zwischenfall wäre spurlos an ihm vorübergegangen, wäre sie nicht offenkundig mit der Frau aus der Kirche verwandt, deren Gesicht ihn bis in seine Träume verfolgte.
Was hatte sich Neues ergeben? Joscelin Grey war wegen seiner umgänglichen, amüsanten Art und dem allzeit paraten Lächeln beliebt gewesen und beneidet worden; der oft sarkastische Unterton seiner Scherze schien den einen oder anderen etwas geärgert zu haben. Monk überraschte die Tatsache, daß man Mitgefühl, wenn nicht gar Mitleid an den Tag legte, weil er der Letztgeborene war. Die herkömmliche Laufbahn für Letztgeborene aus gutem Hause, eine Karriere beim Klerus oder beider Armee, kam für ihn nicht in Frage. Für ersteren war er vollkommen ungeeignet, und letztere wollte ihn aufgrund der Kriegsverletzung nicht haben. Die von ihm hofierte reiche Erbin hatte seinen älteren Bruder geheiratet, und Ersatz war nicht in Sicht, zumindest keiner, dessen Familie ihn für eine annehmbare Partie hielt. Schließlich war er aus der Armee entlassen worden und hatte weder kaufmännisches Geschick noch finanzielle Einnahmequellen aufzuweisen.
Evan, der auf diese Weise einen Schnellkurs in Benehmen und Moral der Bessergestellten absolviert hatte, saß nun verwirrt und desillusioniert im Zug. Er starrte schweigsam aus dem Fenster, während Monk ihn mit einer Mischung aus Mitleid und Belustigung betrachtete. Er wußte, wie seinem Kollegen zumute war, wenn er sich auch nicht an seine eigenen Erfahrungen auf dem Gebiet erinnern konnte. War er womöglich nie so naiv und unbedarft gewesen? Die Vorstellung, schon immer ein Zyniker gewesen zu sein, war verdammt unangenehm.
Sich selbst zu erforschen wie einen Fremden
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