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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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gelassen, als er allein dort war.«
    »Der arme Mann.« Sie zog unwillkürlich die Schultern hoch, als wäre ihr plötzlich kalt. »Ein furchtbarer Gedanke, daß so ein Verrückter frei herumlaufen kann und dabei nicht gefährlicher aussieht als Sie und ich. Ich wüßte wirklich gern, ob mich auch jemand aus tiefstem Herzen verabscheut und ich nur keine Ahnung davon habe. Früher habe ich mir darüber nie den Kopf zerbrochen, aber das hat sich inzwischen geändert. Ich werde den Menschen nie mehr so unbefangen begegnen können wie früher. Werden viele Leute von guten Bekannten umgebracht?«
    »Ja, Ma’am, ich fürchte schon; und am häufigsten von einem Verwandten.«
    »Das ist ja furchtbar«, sagte sie sehr leise; ihr Blick war auf einen fernen Punkt hinter ihm gerichtet. »Regelrecht tragisch.«
    »Da haben Sie recht.« Er wollte weder grob noch gleichgültig wirken, aber er mußte allmählich wieder auf den Punkt kommen. »Hat Major Grey je von irgendwelchen Drohungen gesprochen oder einen Menschen erwähnt, der eventuell Angst vor ihm hätte haben können?«
    Sie schaute ihn mit gerunzelter Stirn an, während die nächste Haarsträhne den offenbar untauglichen Haarnadeln entkam.
    »Angst vor ihm? Er war es doch, der umgebracht wurde!«
    »Die Menschen sind wie alle Tiere«, entgegnete er ruhig.
    »Meistens töten sie aus Furcht.«
    »Ja, vermutlich stimmt das; von der Seite habe ich es noch nie gesehen.« Dann schüttelte sie wieder den Kopf, nach wie vor verwirrt. »Aber Joscelin war der harmloseste Kerl, den man sich vorstellen kann! Ich habe ihn nicht ein einziges Mal ein wirklich böses Wort über jemanden sagen hören. Sicher, seine Scherze waren oft recht scharfzüngig, aber deshalb bringt man niemanden um.
    »Trotzdem – gegen wen richteten sich diese Bemerkungen?« Sie zögerte, anscheinend war ihr die Erinnerung unangenehm.
    »Zum Großteil gegen seine Familie«, sagte sie schließlich.
    »Wenigstens hörte es sich für mich so an – und für andere wohl auch. Seine Kommentare über Menard waren nicht besonders nett – obwohl mein Mann bestimmt darüber mehr weiß als ich. Ich mochte Menard schon immer, aber das lag zweifellos daran, daß Edward und er sich so nahegestanden haben. Edward liebte ihn über alles. Die beiden haben soviel miteinander erlebt.« Sie blinzelte, was ihr sanftes Gesicht noch verknitterter aussehen ließ. »Außerdem hat Joscelin oft ziemlich abfällig über sich selbst gesprochen – es ist schwer zu begreifen.«
    »Über sich selbst?« Monk war überrascht. »Ich war im Rahmen der Ermittlungen auch bei seiner Familie und kann einen bestimmten Groll verstehen, aber warum über sich selbst?«
    »Ach, weil er als Letztgeborener keinerlei Vermögensansprüche hatte. Und dann noch diese Kriegsverletzung, wegen der er hinken mußte; eine Karriere bei der Armee kam folglich nicht in Frage. Er schien das Gefühl gehabt zu haben, daß er irgendwie weniger… weniger wert wäre. Aber das bildete er sich natürlich nur ein. Er war ein Held – alle mochten ihn, die unterschiedlichsten Leute!«
    »Ja, ich verstehe.« Monk dachte an Rosamond Shelburne, die von ihrer Mutter gezwungen worden war, den Sohn mit dem Titel und den vielversprechenden Aussichten zu heiraten. Hatte Joscelin sie geliebt, oder hatte ihn ihre Absage mehr beleidigt als verletzt, ihn einmal mehr daran erinnert, daß er dritte Wahl war? Falls sie ihm tatsächlich etwas bedeutet hatte, mußte es ihn sehr getroffen haben.
    Monk beschloß, das Thema zu wechseln. »Hat er irgendwann einmal erwähnt, womit er sein Geld verdiente? Er muß außer der Familienbeihilfe noch eine andere Einnahmequelle gehabt haben.«
    »O ja. Er hat mit meinem Mann darüber gesprochen und es mir gegenüber angedeutet, aber ich weiß keine Einzelheiten.«
    »Worum handelte es sich dabei, Mrs. Dawlish?«
    »Ich glaube, es ging um die Teilhaberschaft an einer Gesellschaft, die in Handelsbeziehungen mit Ägypten stand.« Auf ihrem Gesicht spiegelten sich der damalige Enthusiasmus und Optimismus wider.
    »War Mr. Dawlish an der Investition beteiligt?«
    »Er zog es in Erwägung; er hielt es für ein recht vielversprechendes Projekt.«
    »Aha. Dürfte ich vielleicht noch einmal vorbeikommen, wenn Mr. Dawlish zu Hause ist? Ich würde gern Genaueres über diese Gesellschaft von ihm erfahren.«
    Die Begeisterung verschwand. »Ich habe mich wohl etwas ungeschickt ausgedrückt. Diese Gesellschaft gibt es nicht. Wie ich es verstanden habe, war es lediglich

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