Das Gesicht des Todes: Authentische Mordfälle (German Edition)
nur sehr traurig, sondern wunderte mich auch über das Verhalten der Eltern. Meine bisherige Erfahrung war die, dass Eltern oder nahe Angehörige von Patienten in vergleichbaren Fällen viel länger warteten, bis sie endlich ihr Einverständnis dafür gaben, dass die Herz-Lungen-Maschine abgeschaltet wird.
Schon zwei Tage zuvor war in mir ein erster Verdacht aufgekommen. Er war jedoch so ungeheuerlich, schien so unwirklich zu sein, dass ich ihn nicht auszusprechen wagte. So trug ich ihn eine ganze Zeit lang mit mir herum, bis es irgendwann aus mir herausplatzte.
» Die Mutter war es!«, rief ich während einer kurzen Lagebesprechung in den Raum.
Die meisten starrten mich an, als ob ich vom Mars käme. Der Leiter der Ermittlungsgruppe konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
» Wie kommst du denn auf diese absurde Idee?«, fragte er. » Eine Mutter zündet doch kein Haus an, in dem sie und ihr Kind sowie eine weitere Familie wohnen. Sie hätte doch dann damit rechnen müssen, dass alle, einschließlich sie selbst, ums Leben kommen.«
Ich versuchte, meinen Verdacht zu begründen.
» Der Brand entstand zweifellos im Treppenhaus«, begann ich. » An der Hauseingangstür gab es keine eindeutigen Aufbruchspuren, womit zumindest in Erwägung zu ziehen ist, dass das Feuer von einem Hausbewohner gelegt worden sein könnte. Hinzu kommt, dass es zwei Wochen zuvor in der unmittelbaren Nachbarschaft brannte. Ein Zusammenhang ist unverkennbar.«
Ich schaute in zweifelnde Gesichter und versuchte meinen Verdacht gegen Monika Packer weiter zu begründen. Wie alle anderen von dem Brand in irgendeiner Weise betroffenen Personen musste auch die Mutter des verstorbenen Jungen unter die Lupe genommen werden. Diese Aufgabe war mir vorbehalten, da ich Hauptsachbearbeiter des Falles war. Ein undankbarer Job, denn wie sollte man mit einer Mutter umgehen, die gerade ihren achtjährigen Sohn verloren hat. Ihr Mann hatte ausgesagt, dass sie etwa zwei Jahre zuvor einen Suizidversuch unternommen habe. Weiter wurde bekannt, dass sie schon mehrfach in der Psychiatrie war.
Mein ungeheurer Verdacht gegen die Mutter wurde aber vielmehr von einer anderen Tatsache genährt: Monika Packer war ein Adoptivkind. Als ich das zum ersten Mal hörte, fiel es mir fast wie Schuppen von den Augen. Deprivationsschädigung! Das ist ein klassischer Fall von Deprivationsschädigung, dachte ich. Mein Puls schnellte hoch. Ich versuchte mich zu erinnern, wann ich das Wort zum ersten Mal gehört hatte. Es war vor vielen Jahren. Ein 19-jähriger junger Mann hatte seine Eltern grausam ermordet und zerstückelt. Die Leichenteile entsorgte er in Abfallcontainern, die auf Autobahnparkplätzen standen. Ein Motiv war nicht erkennbar. Der Täter machte keine Angaben hierzu. Wenn er danach gefragt wurde, zuckte er nur mit den Schultern. Die Tat gab er jedoch zu.
Wie konnte jemand aus gutem Hause so etwas machen? In der Familie schien alles perfekt zu sein. Es gab keine größeren Probleme. Ich zermarterte mir tagelang mein Hirn, doch ich kam zu keinem Ergebnis. Nach Auflösung der Mordkommission wurde ich schließlich wieder vom Tagesgeschäft auf meinem Dezernat eingeholt. Ich musste mich um Fälle kümmern, die zwar weniger spektakulär, aber dennoch dringend zu bearbeiten waren.
Irgendwann kam mir die Idee, mich noch einmal um den jungen Mörder zu kümmern. Ich rief den zuständigen Staatsanwalt an und erfuhr, dass ein erfahrener Psychologe inzwischen ein Gutachten erstellt hatte, das dem Täter zur Tatzeit eine verminderte Zurechnungsfähigkeit zubilligte. Mich interessierte das Thema und so bat ich den Staatsanwalt, mir eine Kopie des Gutachtens zukommen zu lassen, in dem ich zum ersten Mal mit dem Begriff » Deprivationsstörung« konfrontiert wurde.
Das Gutachten umfasste 87 DIN-A4-Seiten und war teilweise in hochwissenschaftlicher Sprache geschrieben. Ich verbrachte einige Stunden damit, die Erklärung herauszufiltern, die der Gutachter für die Tat des jungen Mannes gefunden hatte.
Auf den Punkt gebracht, kam der Diplompsychologe zu dem Schluss, dass Kinder, die bis zu einem Alter von etwa fünf Jahren von ihrer Mutter getrennt werden, durch das Trauma der Trennung eine sogenannte Deprivationsschädigung erleiden können.
Deprivation leitet sich vom englischen Wort » deprivation« ab und bedeutet so viel wie » Beraubung, Entziehung, schmerzlicher Verlust« und stammt aus dem lateinischen Verb » privare« = » berauben, absondern«.
Wie eruiert werden
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