Das Gesicht
Deucalions ausgestrecktem Arm. Als er stillhielt und sie ihn aus der Nähe sahen, stellte sich heraus, dass es eine Taube war.
Mit einem fröhlichen Lachen ging der fette Mann von der Leinwand zu ihm hinüber. »Da soll mich doch gleich der
Teufel holen. Falls sich jemals ein Löwe hierher verirrt, weiß ich, an wen ich mich zu wenden habe.«
Deucalion streichelte den Vogel sanft und wandte sich zu Carson und Michael um, die auf ihn zukamen.
Carson sagte: »Ich dachte, nur Franz von Assisi und Dr. Doolittle redeten mit Tieren.«
»Das ist nichts weiter, nur ein kleiner Trick.«
»Sie scheinen eine ganze Menge Tricks zu beherrschen, ob kleine oder große«, sagte sie.
Jetzt zeigte sich, dass der fette Mann eine angenehme, melodische Stimme hatte. »Das arme Ding sitzt schon seit ein paar Tagen hier fest und ernährt sich von zähem, altem Popcorn. Ich habe die Türen geöffnet, aber ich konnte es nicht dazu bringen, ins Freie zu fliegen.«
Deucalion umschloss den Vogel behutsam mit einer seiner gewaltigen Pranken. Das Tier schien furchtlos zu sein, fast wie in Trance.
Der Mann in Weiß nahm die Taube mit den Wurstfingern beider Hände von Deucalion entgegen und ging mit ihr auf einen Notausgang zu. »Ich lasse sie frei.«
»Das ist mein Partner Detective Maddison«, sagte Carson zu Deucalion. »Michael Maddison.«
Sie nickten einander zu, und Michael – der so tat, als beeindruckten ihn Deucalions Größe und sein Erscheinungsbild überhaupt nicht – sagte: »Am besten verrate ich es Ihnen gleich. Ich bin der Erste, der zugibt, dass wir mit diesem verrückten Fall im Wald stehen, aber dieses ganze Zeug von wegen Transsilvanien kaufe ich Ihnen trotzdem nicht ab.«
»Das ist nur im Film so. Im wirklichen Leben«, antwortete Deucalion, »hat es sich alles in Österreich abgespielt.«
»Wir brauchen Ihre Hilfe«, teilte Carson ihm mit. »Es hat sich herausgestellt, dass wir es mit zwei Mördern zu tun haben.«
»Ja. Das haben sie in den Nachrichten gebracht.«
»Genau. Also, nur einer von beiden scheint … von der Sorte zu sein, vor der Sie mich gewarnt haben.«
»Und der ist Detective bei der Polizei«, sagte Deucalion.
»Richtig. Er läuft noch frei herum. Aber wir haben sein … Spielzimmer gefunden. Falls es sich bei ihm wirklich um einen von Victors Leuten handeln sollte, werden Sie aus seiner Wohnung viel klarere Rückschlüsse ziehen können als wir.«
Michael schüttelte den Kopf. »Carson, er ist kein Psychologe. «
In einem sachlichen Tonfall, der gerade deshalb fesselnd war, weil er jeglicher Dramatik entbehrte, sagte Deucalion: »In Mörder kann ich mich hineinversetzen. Ich bin selbst einer.«
Diese Worte und das damit einhergehende Pulsieren von Licht in den Augen des Giganten verschlugen Michael vorübergehend die Sprache.
»In meinen Anfangszeiten«, fuhr Deucalion fort, »war ich ganz anders. Eine unzivilisierte Bestie. Wutentbrannt. Ich habe etliche Männer ermordet … und eine Frau. Sie war die Ehefrau meines Schöpfers. Ich habe sie an ihrem Hochzeitstag getötet.«
Da er offenbar dieselbe überzeugende Tiefgründigkeit an Deucalion wahrnahm, die Carson immens beeindruckt hatte, suchte Michael nach Worten und fand folgende: »Diese Geschichte kenne ich auch.«
»Aber ich habe sie selbst erlebt«, erwiderte Deucalion. Er wandte sich an Carson. »Ich gehe bei Tageslicht nach Möglichkeit nicht aus dem Haus.«
»Wir bringen Sie hin. In einer nicht gekennzeichneten Limousine. Ganz unauffällig.«
»Ich kenne diesen Ort. Ich habe ihn in den Nachrichten gesehen. Mir ist es lieber, Sie dort zu treffen.«
»Wann?«, fragte sie.
»Fahren Sie los«, sagte er. »Ich werde bei Ihrer Ankunft da sein.«
»Sie machen sich keine Vorstellung von Carsons Fahrstil«, sagte Michael.
»Ich werde dort sein.«
Der fette Mann drückte gerade mit der Schulter einen Notausgang vorn im Lichtspieltheater auf und ließ den späten Nachmittag ein. Er gab der Taube ihre Freiheit, und sie flog in das düstere Licht hinaus, das dem Unwetter vorausging.
84
Victor fand Erika in der Bibliothek. Sie hatte es sich auf einem Sessel behaglich gemacht, die Beine unter sich angezogen und las einen Roman.
Rückblickend hätte er ihr verbieten sollen, so viel Zeit mit der Lektüre von Dichtern und Schriftstellern zu verbringen. Emily Dickinson, also wirklich.
Die Autoren solcher Werke bildeten sich ein, sie sprächen nicht nur den Verstand, sondern auch das Herz und sogar die Seele an. Es lag in der
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