Das Gesicht
Wesensart von Romanen und Gedichten, zu emotionalen Reaktionen zu ermuntern.
Er hätte darauf bestehen sollen, dass Erika vorwiegend naturwissenschaftliche Werke und Sachbücher las. Mathematik. Staatstheorie. Psychologie. Geschichte. Aber auch manche Geschichtsbücher könnten sich als gefährlich erweisen. Im Großen und Ganzen jedoch waren Sachbücher bildend und brachten kaum die Gefahr mit sich, verderbliche Sentimentalität einzuflößen.
Zu spät.
Von Mitleid infiziert, war sie ihm nicht mehr nützlich. Sie bildete sich ein, ein Gewissen zu haben und fürsorgliche Gefühle entwickeln zu können.
Die Entdeckung dieser zärtlichen Gefühle gefiel ihr gut, und in ihrer Selbstzufriedenheit hatte sie ihren Herrn und Meister verraten. Sie würde ihn wieder verraten.
Noch schlimmer war, dass sie es, trunken von angelesenem Mitleid, in ihrem kritiklosen Gefühlsüberschwang wagen könnte, ihn aus dem einen oder anderen Grund zu bemitleiden. Er dachte gar nicht daran, ihr dummes Mitgefühl zu dulden.
Weise Männer warnten schon lange vor dem verderblichen Einfluss von Büchern. Hier hatte er den unwiderlegbaren Beweis.
Als er auf sie zukam, blickte sie von ihrem Buch auf, diesem verfluchten Roman, der so schädlich für sie war, und lächelte.
Er schlug so fest zu, dass er ihr die Nase brach. Blut floss, und dieser Anblick berauschte ihn.
Sie ließ drei Schläge über sich ergehen. Sie hätte alle Schläge über sich ergehen lassen, die er auf sie niederprasseln ließ, so viele, wie es ihm beliebte.
Victor empfand es nicht als befriedigend genug, sie lediglich zu schlagen. Er riss ihr das Buch aus den Händen, warf es durch das Zimmer, packte sie an ihrem dichten bronzefarbenen Haar, zerrte sie von dem Sessel hoch und warf sie auf den Boden.
Da ihr die Möglichkeit versagt war, ihr Schmerzempfinden abzustellen, litt sie. Er wusste ganz genau, wie er dieses Leiden auf ein Höchstmaß steigern konnte. Er trat sie. Und er trat immer wieder zu.
Obwohl er an seinem Körper Verbesserungen vorgenommen hatte, war Victor einem Angehörigen der Neuen Rasse
physisch unterlegen. Nach einer Weile war er restlos erschöpft und stand schweißüberströmt und schwer atmend da.
Sämtliche Verletzungen, die er ihr zugefügt hatte, würden selbstverständlich verheilen, ohne Narben zurückzulassen. Ihre Platzwunden begannen sich jetzt schon zu schließen, und ihre gebrochenen Knochen wuchsen bereits wieder zusammen.
Wenn er sie am Leben lassen wollte, würde sie schon in ein oder zwei Tagen wieder so gut wie neu sein. Sie würde ihn wieder anlächeln. Sie würde ihm zu Diensten sein wie bisher.
Aber das war nicht sein Wunsch.
Er zog einen Stuhl von einem Lesepult und sagte: »Steh auf. Setz dich hierher.«
Sie war reichlich lädiert, doch es gelang ihr, sich auf die Knie und von dort aus auf den Stuhl zu ziehen. Einen Moment lang saß sie mit gesenktem Kopf da. Dann hob sie ihren Kopf und drückte den Rücken durch.
Seine Leute waren einfach erstaunlich. Zäh. Robust. Widerstandsfähig. Und auf ihre Weise stolz.
Er ließ sie auf dem Stuhl sitzen, begab sich zur Bar der Bibliothek und schenkte sich aus einer Karaffe Cognac in einen Schwenker.
Er wollte ruhiger sein, wenn er sie tötete. In dem aufgewühlten Zustand, in dem er sich jetzt befand, würde er nicht in der Lage sein, den Moment voll auszukosten.
An einem Fenster mit dem Rücken zu ihr nippte er an seinem Cognac und betrachtete den gequetschten Himmel, dessen Prellungen sich immer dunkler färbten. Bei Anbruch der Nacht, wenn nicht schon eher, würde der Regen einsetzen.
Es hieß, Gott hätte die Welt in sechs Tagen erschaffen und am siebenten Tage geruht. Das war eine Lüge.
Erstens einmal gab es keinen Gott, sondern nur die brutale Natur.
Zweitens wusste Victor aus harter Erfahrung, dass die Erschaffung einer neuen Welt ein frustrierendes, häufig auch ein mühseliges und insbesondere ein zeitraubendes Unterfangen war.
Als er wieder ruhiger geworden war und sich bereit fühlte, kehrte er zu Erika zurück. Sie saß noch so auf dem Stuhl, wie er sie dort zurückgelassen hatte.
Er zog seine Sportjacke aus, hängte sie über eine Stuhllehne und sagte: »Dies könnte eine perfekte Stadt sein. Und eines Tages … eine perfekte Welt. Die gewöhnliche Menschheit mit ihren Makeln – sie widersetzt sich der Perfektion. Eines Tages werden die Menschen … ersetzt werden. Sie alle.«
Sie saß mit erhobenem Kopf stumm da, sah ihn aber nicht an, sondern blickte
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