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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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andere Dinge, die sie mit eigenen Augen gesehen hatte. Außerdem besaß er eine Eigenschaft, der sie noch nie zuvor begegnet war, eine Hintergründigkeit, die sich jeder Beschreibung entzog. Seine Ruhe war von ozeanischer Tiefe, sein Blick so stetig und so unmittelbar, dass sie manchmal die Augen abwenden musste – nicht etwa, weil das gelegentliche Pulsieren des Lichts in seinen Augen sie verstörte, sondern weil er tiefer in sie hineinzuschauen schien, als ihr behagte, durch all ihre Schutzmauern.
    Wenn Deucalion tatsächlich das sagenumwobene Geschöpf Victor Frankensteins war, dann hatte im Lauf der vergangenen zwei Jahrhunderte, während der menschliche Arzt zum Monster geworden war, das Monster menschliche Züge angenommen – und vielleicht war aus ihm sogar ein Mensch mit ungewöhnlichen Einsichten und von außergewöhnlichem Format geworden.
    Sie brauchte einen freien Tag. Einen ganzen Monat. Andere arbeiteten inzwischen an dem Fall und suchten Harker. Sie brauchte sich nicht sieben Tage in der Woche krumm zu legen.
    Trotzdem wartete Carson, wie abgemacht, um halb vier nachmittags am Straßenrand vor ihrem Haus.

    Um drei Uhr dreiunddreißig traf die Limousine ein. Im Lauf der Morgenstunden hatte Carson einen schwachen Moment gehabt. Michael hatte den Wagen gefahren, als sie Harkers Wohnung verlassen hatten.
    Als sie jetzt auf der Beifahrerseite einstieg, sagte Michael: »Ich bin den ganzen Weg hierher gefahren, ohne auch nur ein einziges Mal die Geschwindigkeitsbegrenzungen zu überschreiten.«
    »Deshalb bist du drei Minuten zu spät.«
    »Ganze drei Minuten? Tja, damit habe ich vermutlich jede Chance verpatzt, die wir jemals hatten, Harker zu finden.«
    »Das Einzige, wovon wir nicht noch mehr kaufen können, ist Zeit«, sagte sie.
    »Und Dodos. Die können wir nicht kaufen, weil sie nämlich ausgestorben sind. Und Dinosaurier.«
    »Ich habe Deucalion im Luxe angerufen. Er erwartet uns um vier.«
    »Ich kann es kaum erwarten, das in meine Vernehmungsliste einzutragen: ›Den Fall mit Frankensteins Monster diskutiert. Es sagt, Igor war ein abscheulicher Kerl, der seine Popel gefressen hat.‹«
    Sie seufzte. »Ich hatte irgendwie gehofft, die Konzentration, die zum Fahren nötig ist, würde dich daran hindern, dummes Zeug zu reden.«
    »Ganz im Gegenteil. Das Fahren sorgt dafür, dass mein Gehirn nicht austrocknet. Es ist echt cool, am Steuer zu sitzen.«
    »Gewöhne dich bloß nicht daran.«
    Als sie nach vier das Luxe Lichtspieltheater erreichten, hatte sich der Himmel so dunkel gefärbt wie eine gusseiserne Pfanne.
    Michael parkte im absoluten Halteverbot und hängte eine Karte, auf der POLIZEI stand, über den Rückspiegel. »So, so, in einem Lichtspieltheater lebt er also? Ist er vielleicht ein guter Kumpel vom Phantom der Oper?«

    »Du wirst es ja sehen«, sagte sie und stieg aus.
    Als er die Fahrertür schloss und sie über das Dach des Wagens hinweg ansah, fragte er: »Kriegt er bei Vollmond behaarte Handflächen?«
    »Nein, er rasiert sie. Genauso wie du.«

82
    Nach einer langen Nacht und einem noch längeren Tag in der Barmherzigkeit nahm Victor in einem Cajun-Restaurant im French Quarter eine Mahlzeit zu sich, die man als spätes Mittagessen oder als frühes Abendessen bezeichnen könnte: Er bestellte Gumbo mit Meeresfrüchten und Kaninchenetouffée. Das war zwar nicht ganz so befriedigend wie sein chinesisches Mahl am Vorabend, aber das Essen war gut.
    Nach fast dreißig Stunden kehrte er anschließend erstmals nach Hause zurück.
    Seit er seine physiologischen Voraussetzungen in dem Ausmaß verbessert hatte, das notwendig war, damit er wenig Schlaf brauchte und folglich im Labor mehr erreichen konnte, fragte er sich manchmal, ob er nicht zu viel arbeitete. Vielleicht wäre sein Verstand bei der Arbeit im Laboratorium klarer, und er würde demzufolge bessere wissenschaftliche Ergebnisse erzielen, wenn er sich mehr Freizeit gönnte.
    Im Lauf der Jahrzehnte hatte er in regelmäßigen Abständen das Für und Wider gegeneinander abgewogen. Seine Entscheidung war jedes Mal zugunsten von mehr Arbeit ausgefallen.
    Ob es ihm nun gefiel oder nicht – er hatte sich einem großen Ziel verschrieben. Er war ein Mann von der Sorte, die jederzeit bereit war, selbstlos an einer Welt zu arbeiten, die
von Vernunft beherrscht wurde, einer Welt frei von Habgier und von einer Rasse bevölkert, die durch ein einziges gemeinsames Ziel geeint war.
    Als er sein Haus im Garden District erreichte, zog er wieder

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