Das Gesicht
zwei Tagen hat es begonnen, und seitdem beschleunigt es sich.«
Patrick stand erwartungsvoll von seinem Sessel auf.
»Wie Pinocchio«, sagte Harker, »bin ich dabei, mich zu verwandeln.«
»Verwandeln … inwiefern?«
»Victor hat uns die Fähigkeit verweigert, uns fortzupflanzen. Aber ich … ich werde in absehbarer Zeit irgendetwas gebären.«
Mit einer Miene, in der sich im selben Maße Stolz und Furcht auszudrücken schienen, hob Harker sein lose sitzendes T-Shirt hoch.
Unter der Haut und den Fettschichten auf Harkers Unterleib nahm ein Gesicht Gestalt an. Das Ding wirkte wie eine Totenmaske, die jedoch ständig in Bewegung war: Blinde Augen verdrehten sich, und der Mund öffnete sich wie zu einem stummen Schrei.
Pater Duchaine wich schockiert zurück und bekreuzigte sich, ehe er merkte, was er tat.
In dem Moment läutete es an der Tür.
»Gebären?«, fragte der Geistliche aufgeregt. »Was bringt dich auf den Gedanken, es könnte sich um eine Geburt und nicht um biologisches Chaos handeln?«
Plötzlich brach Schweiß auf Harkers Gesicht aus. Diese Ablehnung ließ ihn verdrossen sein T-Shirt hinunterziehen. »Ich fürchte mich nicht. Weshalb sollte ich das auch tun?« Aber ihm war die Angst deutlich anzumerken. »Ich habe gemordet. Und jetzt erschaffe ich etwas Neues – und das macht mich menschlicher.«
Es läutete wieder.
»Ein Zusammenbruch der Zellstruktur, Metastasen«, sagte Pater Duchaine. »Ein entsetzlicher Fehler im Design.«
»Du bist ja nur neidisch. Genau das bist du – neidisch in deiner Keuschheit.«
»Du musst zu ihm gehen. Dir von ihm helfen lassen. Er wird schon wissen, was zu tun ist.«
»Oh ja, was zu tun ist, weiß er ganz bestimmt«, sagte Harker. »Auf mich wartet schon ein Platz ganz unten in der Mülldeponie.«
Es läutete ein drittes Mal an der Tür, diesmal beharrlicher als bisher.
»Warte hier«, sagte Pater Duchaine. »Ich bin gleich wieder da. Wir werden uns gemeinsam überlegen, was wir tun können, es wird uns schon irgendetwas einfallen. Warte hier auf mich.«
Er schloss die Tür hinter sich, als er sein Arbeitszimmer verließ. Er durchquerte das Wohnzimmer, um zur Haustür zu gelangen.
Als der Geistliche die Haustür öffnete, sah er Victor auf der Veranda vor dem Pfarrhaus stehen.
»Guten Abend, Patrick.«
Bestrebt, seine ungeheure Angst zu verbergen, sagte Pater Duchaine: »Sie sind es, Sir. Guten Abend.«
»Ist das alles?«
»Entschuldigen Sie, wie meinen Sie das?« Als Victor die Stirn runzelte, verstand Duchaine. »Ach so, ja. Natürlich. Treten Sie ein, Sir. Darf ich Sie herein bitten?«
88
Die Schatten von Nachtfaltern schlugen einen sich stets leicht abwandelnden Trommelwirbel auf den Gesichtern von Christus, Buddha und Amun-Re.
Auf dem Dachboden über Jonathan Harkers Wohnung standen Carson, Michael und Deucalion gemeinsam vor der Collage von Götterbildern, die eine ganze Wand einnahm. Harker musste unzählige Stunden darauf verwendet haben.
»Darin scheint sich eine solche Sehnsucht auszudrücken«, sagte Carson. »Man kann seine Seelenqualen fühlen.«
»Lassen Sie sich das bloß nicht zu nahe gehen«, riet ihr Deucalion. »Ihm wäre jede Philosophie willkommen gewesen, die seine innere Leere ausfüllt.«
Er löste ein Bild von Christus im Garten Gethsemane von der Wand und dann eines von Buddha und legte darunter ganz andere Gestalten und Gesichter frei, deren Natur im ersten Moment rätselhaft war.
»Von Gott war er erst in der allerletzten Zeit besessen«, erklärte Deucalion.
Als er weitere Bilder von der Wand löste, sah Carson, dass sich darunter eine andere Collage verbarg, diesmal Bilder von Nazis und ihren Symbolen: Hakenkreuze, Hitler, Soldaten, die im Stechschritt marschierten.
»Unter all diesen Gesichtern herkömmlicher Götter ist ein anderer Gott, der ihn enttäuscht hat«, sagte Deucalion. »Ein
Gott der gewalttätigen gesellschaftlichen Veränderung und der Rassenreinheit. Von denen gibt es so viele.«
Vielleicht war Michael jetzt endlich restlos davon überzeugt, mit wem er es bei Deucalion zu tun hatte, denn er sagte: »Woher wussten Sie, dass sich darunter eine zweite Schicht verbirgt?«
»Nicht nur eine zweite«, sagte Deucalion. »Es gibt auch noch eine dritte.«
Als sie Hitler und seinesgleichen von der Wand rissen, wurde eine noch schaurigere Collage freigelegt: Bilder von Satan, Dämonen und satanischen Symbolen.
Deucalion sagte: »Die einzigartige Hoffnungslosigkeit eines seelenlosen Geschöpfs führt
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