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Das Gesicht

Das Gesicht

Titel: Das Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean Koontz
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übertragen bekommen hatte, hatte Pater Duchaine die Zerrissenheit zwischen dem, was er war, und dem, was er gern gewesen wäre, im Lauf der Monate und Jahre immer mehr zugesetzt.
    Ungeachtet der moralischen Frage der Zweckentfremdung dieses speziellen Weins, wenn er nicht für das Abendmahl verwendet wurde, war sein Alkoholgehalt geringer, als es wünschenswert gewesen wäre. Am späten Nachmittag begannen
sie, ihn mit Pater Duchaines Wodkavorräten zu versetzen, um ihn etwas gehaltvoller zu machen.
    Während sie im Arbeitszimmer des Pfarrhauses auf Sesseln saßen, versuchten der Geistliche und der Detective zum zehnten – oder vielleicht auch zum zwölften – Mal, einander die lästigsten Dornen aus der Psyche zu ziehen.
    »Vater wird mich bald finden«, prophezeite Harker. »Er wird mich ausschalten.«
    »Mich auch«, sagte der Geistliche verdrossen.
    »Aber ich fühle mich nicht schuldig wegen der Dinge, die ich getan habe.«
    »Du sollst nicht töten.«
    »Selbst wenn es einen Gott gibt, können Seine Gebote auf uns nicht anwendbar sein«, sagte Harker. »Wir sind nicht Seine Kinder.«
    »Auch unser Schöpfer hat uns das Morden verboten … außer auf seine Anweisung hin.«
    »Aber unser Schöpfer ist nicht Gott. Er ist eher wie … der Plantagenbesitzer. Mord ist keine Sünde … sondern fällt lediglich unter Ungehorsam.«
    »Und trotzdem ist es ein Verbrechen«, sagte Pater Duchaine, dem nicht behagte, was Harker zu seiner Rechtfertigung vorbrachte, obgleich an der Analogie mit dem Plantagenbesitzer einiges dran war.
    Harker saß vorgebeugt auf der vorderen Kante seines Sessels und hielt das Glas Wein, das mit Wodka versetzt war, in beiden Händen, als er sagte: »Glaubst du an das Böse?«
    »Menschen tun abscheuliche Dinge«, sagte der Geistliche. »Ich meine, richtige Menschen, die Alte Rasse. Wenn man bedenkt, dass sie Kinder Gottes sind, tun sie ganz, ganz furchtbare Dinge.«
    »Aber das Böse«, verfolgte Harker seinen Faden hartnäckig weiter. »Reine, vorsätzliche Schlechtigkeit? Ist das Böse in der Welt tatsächlich vorhanden?«

    Der Geistliche trank etwas und erwiderte: »Die Kirche gestattet Exorzismus. Ich habe nie einen durchgeführt.«
    Mit einer Feierlichkeit, die abgrundtiefem Grauen in Verbindung mit zu viel Alkohol entsprang, sagte Harker: »Ist er das Böse?«
    »Victor?« Pater Duchaine hatte das Gefühl, sich auf gefährlichen Boden zu begeben. »Er ist ein harter Mann, und es ist nicht leicht, ihn zu mögen. Seine Scherze sind nicht komisch.«
    Harker erhob sich von seinem Sessel, trat ans Fenster und musterte den bedrohlichen, tief hängenden Himmel, der dem Tag eine vorzeitige Dämmerung aufzwang.
    Nach einer Weile sagte er: »Wenn er das Böse ist … was sind wir dann? Ich bin in der letzten Zeit so … verwirrt. Aber ich empfinde mich nicht als böse. Nicht wie Hitler oder Lex Luthor. Einfach nur … unvollständig.«
    Pater Duchaine rutschte auf seinem Sessel nach vorn. »Glaubst du … wenn wir unser Leben auf die richtige Weise führen, könnten sich in uns mit der Zeit die Seelen herausbilden, die Victor uns nicht geben konnte?«
    Harker kehrte vom Fenster zurück, schüttete mehr Wodka in seinen Wein und sagte mit großem Ernst: »Du meinst, in uns könnten Seelen wachsen? Wie … Gallensteine? Auf den Gedanken bin ich noch nie gekommen.«
    »Hast du Pinocchio gesehen?«
    »Für ihre Filme hat mir immer die Geduld gefehlt.«
    »Diese Marionette ist aus Holz geschnitzt«, sagte Pater Duchaine, »aber sie möchte unbedingt ein richtiger kleiner Junge sein.«
    Harker nickte, trank sein Glas zur Hälfte leer und sagte: »So, wie Pu der Bär ein richtiger Bär sein will.«
    »Nein. Pu der Bär hat Wahnvorstellungen. Er bildet sich ein, er sei bereits ein echter Bär. Er isst Honig. Er fürchtet sich vor Bienen.«

    »Wird Pinocchio ein richtiger Junge?«
    Pater Duchaine antwortete: »Ja, nach langem Ringen.«
    »Das kann einen beflügeln«, beschloss Harker.
    »Oh ja. Allerdings.«
    Harker kaute auf seiner Unterlippe herum und dachte nach, ehe er fragte: »Kannst du ein Geheimnis für dich behalten? «
    »Selbstverständlich. Ich bin Geistlicher.«
    »Es ist aber ein bisschen unheimlich«, sagte Harker.
    »Alles im Leben ist ein bisschen unheimlich.«
    »Wie wahr.«
    »Tatsächlich war genau das der Gegenstand meiner Predigt am vergangenen Sonntag.«
    Harker stellte sein Glas ab und blieb vor Duchaine stehen. »Aber ich bin viel zu gespannt, um mich wirklich zu fürchten. Vor

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