Das Gesicht
Bestattungsinstitut Fullbright parkte, hatte sie Michael alles erzählt, was sich in Allwines Wohnung abgespielt hatte.
In seinem Gesicht drückte sich keinerlei Skepsis aus, aber sein Tonfall entsprach einer hochgezogenen Augenbraue: »Du warst müde und an einem äußerst eigenartigen Ort …«
»Er hat mir die Waffe weggenommen«, sagte sie, und möglicherweise hatte sie das noch mehr als alles andere erstaunt und war ihr übernatürlicher als alles andere an diesem Erlebnis vorgekommen. »Niemand nimmt mir eine Waffe weg, Michael. Willst du es mal probieren?«
»Nein. Ich laufe gern mit Hoden rum. Ich sage ja nur, dass er schwarz gekleidet war und die ganze Wohnung schwarz ist, und daher war das mit dem Verschwinden wahrscheinlich nichts weiter als ein Trick, eine optische Täuschung.«
»Dann hat er mich vielleicht manipuliert, und ich habe nur das gesehen, was er wollte? Meinst du das?«
»Klingt das nicht einleuchtender?«
»Und wie, verdammt noch mal? Aber wenn es ein Trick
war, sollte er der Aufhänger für eine große Show in Las Vegas sein.
«Michael sah das Bestattungsinstitut an und fragte: »Warum sind wir hier?«
»Vielleicht hat er sich in Wirklichkeit gar nicht schneller bewegt als das Auge, und vielleicht ist er nicht wirklich spurlos verschwunden, aber er hat ins Schwarze getroffen, als er gesagt hat, Allwine sei verzweifelt gewesen und hätte sich gewünscht zu sterben … aber er hätte sich nicht selbst umbringen können.«
Aus einer Tasche zog sie die vier Gedächtnisbroschüren und reichte sie Michael.
»Bobby hatte vielleicht hundert von diesen Broschüren«, fuhr sie fort, »in einer Nachttischschublade liegen. Alle von verschiedenen Begräbnissen in diesem Laden. Der Tod hat eine große Anziehungskraft auf ihn ausgeübt.«
Sie stieg aus, knallte die Fahrertür zu und lief um den Wagen herum und neben Michael her.
Er sagte: »Die Lebenskraft von einem Gewitter? Was zum Teufel soll das heißen?«
»Manchmal pulsiert ein hintergründiges Leuchten durch seine Augen.«
Michael, der neben ihr her eilte, sagte: »Bis heute warst du immer so grundsolide wie Joe Friday ohne Y-Chromosom. Und jetzt bist du auf einmal Nancy Drew auf Speed.«
Wie so viele Dinge in New Orleans schien das Bestattungsinstitut ebenso sehr einer Traumwelt wie der Realität anzugehören. Erbaut worden war es als neugotische Villa, und zweifellos diente es dem Bestattungsunternehmer weiterhin nicht nur als Geschäftsadresse, sondern auch als Wohnsitz. Das Gewicht der verschwenderischen Rokokoverzierungen konnte die Belastungsgrenze, oberhalb derer Traufen nachgaben, Wände implodierten und das Dach einstürzte, nur geringfügig unterschreiten.
Immergrüne Eichen aus der Ära der Großplantagen warfen ihren Schatten auf das Haus, während Kamelien, Gardenien, Mimosen und Teerosen ein alles durchdringender Duft entströmte. Bienen schwirrten träge von einer Blüte zur anderen, berauscht vom üppigen Nektar und zu fett und zu glücklich, um jemanden zu stechen.
Carson läutete an der Haustür. »Michael, ahnst du nicht auch manchmal, dass am Leben mehr dran sein muss als die ewige Plackerei – irgendein ganz erstaunliches Geheimnis, das du aus dem Augenwinkel fast sehen kannst?« Ehe er ihr darauf antworten konnte, sprach sie ungestüm weiter. »Letzte Nacht habe ich etwas ganz Erstaunliches gesehen … etwas, das ich nicht in Worte fassen kann. Es ist fast so, als gäbe es tatsächlich UFOs.«
»Du und ich – wir haben Typen, die solches Zeug reden, schon in die Klapse gebracht.«
Ein griesgrämig wirkender Brummbär von einem Mann öffnete ihnen die Tür und bekannte sich mit trübsinniger Stimme dazu, tatsächlich Taylor Fullbright zu sein.
Carson zückte ihr Polizeiabzeichen und sagte: »Sir, entschuldigen Sie bitte, dass ich mich nicht telefonisch angemeldet habe, aber uns führt eine ziemlich eilige Angelegenheit zu Ihnen.«
Sowie er feststellte, dass es sich nicht um trauernde Hinterbliebene handelte, die seinen Rat einholen wollten, hellte sich Fullbrights Gesicht auf, und seine wahre unbeschwerte Natur kam zum Vorschein. »Herein mit Ihnen, kommen Sie herein! Ich war gerade dabei, einen Kunden zu kremieren.«
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Nach der Behandlung in der rotierenden Streckfoltereinrichtung liegt Randal sechs lange Zeit auf seinem Bett, obwohl er nicht schläft – denn das tut er nur äußerst selten – , mit dem Gesicht zur Wand und dem Rücken zum Zimmer, um das Chaos abzublocken und seinem Gemüt zu
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