Das Gespinst des Bösen
führen, in dem ein Verstorbener lag … Die Newtons hatten die Regeln offensichtlich in ihrem Sinne gebeugt. Vielleicht hatten sie sogar diesen Bericht gelesen, der zum ersten Mal 1912 veröffentlicht worden war:
… Gewöhnlich lässt die Landbevölkerung in dem Zimmer, in dem der Leichnam liegt, jede Nacht bis zur Beisetzung eine Kerze brennen; auf den Körper wird ein Zinnteller mit Salz gestellt; Martha S. zufolge soll die Kerze in das Salz gesteckt werden, das in der Mitte des Tellers aufgehäuft wird.
Ganz schön gruselig. Jane klappte das Buch zu. Es war zu still hier drin. Sie stand auf, nahm das Handy und ging damit zum Fenster des Spülküchenbüros. Sie sah hinaus in die Dunkelheit und drückte die Eins.
Sie haben drei neue Nachrichten. Um Ihre Nachrichten abzuhören …
Sie starrte lange auf das beleuchtete kleine Viereck, ehe sie noch einmal auf die Eins drückte.
Die erste Nachricht war von dreizehn Uhr dreiundvierzig.
«Jane, hier ist … Ach, Scheiße, du weißt, wer hier ist. Ich hab ungefähr siebzehn Nachrichten hinterlassen, verdammt …»
Fünf, um genau zu sein.
«
… Ich weiß, dass mit dem Telefon alles in Ordnung ist, also ist mit
DIR
irgendwas nicht in Ordnung. Ich hab es sogar auf dem Festnetz versucht, weil ich dachte, ich frag deine Mom – ja, ja, ich weiß, wie schrecklich du das finden würdest, aber das ist mir inzwischen ziemlich egal. Es geht sowieso immer der Scheißanrufbeantworter dran
.
Ich meine, hab ich irgendwas gemacht? Irgendwas, von dem ich nichts weiß? Hat dir irgendjemand erzählt, ich hätte irgendwas gemacht? Du musst mich ja nicht mal zurückrufen, hinterlass mir einfach eine Nachricht. Ich mach das Handy heute Abend aus, dann riskierst du nicht, dass ich drangehe. Hinterlass einfach eine Nachricht, Jane. Ich meine, wir waren schließlich zwei Jahre zusammen. Das ist länger, als die meisten verhei- … Ach, Scheiße!»
Wieder starrte Jane das Handy lange an, ehe sie es ausschaltete.
Der Bauleiter war tot, seine Freundin wurde vermisst.
Das meiste hatte sich Lol aus den Satzfetzen, die er durch das offene Fenster seines Wagens aufgeschnappt hatte, schon zusammengereimt. Er ahnte, was jetzt kam. Er war – als gescheiterter Psychotherapeut und Songschreiber, der etwas zu spät etwas erfolgreich geworden war – nur nicht sicher, wie er damit umgehen sollte.
«Vielleicht brauchst du einen guten Manager.» Sie rieb sich müde die Augen. «Jemanden, der deine Tournee organisiert.»
«Nein, ich glaube nicht, echt nicht.» Lol startete den Motor und schaltete das Licht ein. «Du bist müde. Du hast seit heute Mittag nichts gegessen. Wahrscheinlich sogar seit dem Frühstück, ist ja schließlich Sonntag heute.»
«Ist immer noch Sonntag?» Als sie auf die Straße einbogen, lockerte Merrily ihren Gurt, als hätte sie Druck auf der Brust. Nach einer Zigarette hatte sie noch nicht gegriffen. «Vor ein paar Wochen … habe ich wach gelegen und gezählt, wie viele Menschen unnötig gelitten haben oder gestorben sind – auf unnatürliche Weise –, und zwar trotz meines Betens und Flehens und …»
«Eigentlich zählt man Schafe, Merrily», sagte Lol sanft. «Wenn man Leichen zählt, schläft man vermutlich auch irgendwann ein, aber die Träume werden dann nicht ganz so idyllisch.»
«Sie hatte den Segen erhalten, Lol. So richtig feierlich. Weihwasser. Salböl.»
«Wir könnten jetzt nach Hereford fahren, und du könntest willkürlich Leute auf der Straße segnen, und trotzdem werden einige von ihnen in eine Schlägerei geraten, einen Autounfall verursachen oder was weiß ich.»
«Und was soll das dann? Was soll das dann alles überhaupt?»
Lol sagte nichts und beschleunigte, während Merrily aus dem Fenster starrte. Auf dem Hinweg hatte sie ihm von der Zeremonie in der kleinen, nicht mehr genutzten Kirche erzählt. Dass Fuchsia geglaubt hatte, irgendetwas würde kommen – und von dem Gespräch mit Huw Owen, durch das Merrily auf die Herkunft dieses Satzes aus einer Erzählung aufmerksam geworden war.
Die ständige Spannung zwischen Merrilys Glauben und einem gleichfalls notwendigen Skeptizismus musste sie manchmal vollkommen verrückt machen. Jetzt zum Beispiel. Ihr Gesicht war immer noch von ihm ab- und der Nacht zugewandt.
«Man denkt immer wieder, was wohl kommt, wenn die Kirche wirklich am Ende ist, wenn sie nichts mehr bringt. Und mit jedem Tag wird es schwerer, diese hartnäckige, quälende Frage zu beantworten: Wenn es einen
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