Das Gespinst des Bösen
wahrzunehmen.
«Ihnen geht es überhaupt nicht gut, oder?»
«Mir geht es gut.»
«Schuhe aus», sagte Mrs. Morningwood.
«Aber, ich –»
«Legen Sie sich auf die Chaiselongue. Versuchen Sie gar nicht erst, Einwände zu erheben, das ist zwecklos. Stecken Sie sich dieses Kissen unter Ihren Kopf und das andere unter den Rücken, dort, wo die Federn kaputt sind.»
Mrs. Morningwood trug Jeans, einen militärisch wirkenden, gerippten Pullover und einen blassgelben Schal. Die Haare, die frisch gewaschen aussahen, hingen offen herab. Merrily sah unscharf eine zeitlos schöne Frau, die nicht mehr viel Getue um ihr Aussehen machte. Irgendwo tickte eine Uhr. Das Zimmer hatte cremefarbene Wände, und darin standen ein Bugholzschaukelstuhl, ein Ebenholzschreibtisch und ein gusseiserner Ofen, in dem auf der Glut ein neuer Scheit lag. Davor hatte sich Roscoe, der Wolfshund, ausgestreckt, länger und haariger als der Teppich, auf dem er lag.
«Entschuldigung …» Merrily suchte verwirrt nach der tickenden Uhr. «Wie spät ist es?»
«Ich glaube, es müsste bald Mittag sein. Die Uhr ist in der Küche. Hier drin soll die Zeit stillstehen.»
Mittag. Oh Gott.
Sie hatte um neun gefrühstückt – fast ein ganzes gekochtes Ei und eine Scheibe trockenen Toast – und dabei beobachtet, wie Teddy Murray fröhlich seinen Rucksack packte, um die Fünfzehn-Kilometer-Route zu erkunden, die er nächste Woche mit den Deutschen ablaufen wollte. Bev hatte Merrily prüfend angesehen, den blonden Schopf zur Seite geneigt. «Sind Sie
sicher
, dass mit Ihnen alles in Ordnung ist, Merrily?»
Sie war wieder in ihr Zimmer gegangen, um sich einen Moment lang hinzulegen … und über eine Stunde später panisch aufgewacht. Sie konnte sich gar nicht recht erinnern, wie sie schließlich zu Mrs. Morningwood gegangen war.
Mrs. Morningwood hatte einen Klavierhocker, der mit schwarzem Samt bezogen war, ans Ende der Chaiselongue gezogen. Sie beugte sich über Merrily und legte ihr, die Lesebrille auf der Nase, eine blaue Wolldecke über die Beine. Dann spreizte sie Merrilys Zehen und ließ einen Daumennagel über die Fußsohle gleiten; es fühlte sich an wie ein Teppichmesser. Merrily versuchte den Schmerz auszublenden und sich eine Frage einfallen zu lassen, die nichts mit ihrem Gesundheitszustand zu tun hatte.
«Warum ist Jacques de Molay nach Garway gekommen?»
«Wer?»
«Chef der Tempelritter.»
«Sie haben aber kein Herzleiden, oder?»
«Nicht, dass ich wüsste.»
«Ich hätte fragen sollen, ehe ich angefangen habe. Das war nachlässig von mir. Jacques de Molay. Ich glaube, es ist jedenfalls ziemlich sicher,
dass
er hier war. Ungefähr zwölf Jahre vor seinem unglückseligen Tod.»
«Und wo wird er …?
Oh
–»
«Ihr Bauch, Schätzchen. So hart wie eine Trommel. Der Darm ist aufgewickelt wie die Feder einer Uhr. Es kann gut sein, dass Sie kurz vor einem Magengeschwür stehen.» Mrs. Morningwood lehnte sich etwas zurück, tiefe Falten in ihrem langen Gesicht, der Ausdruck in dem sonnenlosen Licht vollkommen konzentriert. «Und Sie haben nichts davon bemerkt? Überhaupt nichts?»
«Nein, ich …
Gott
!»
«Der Schmerz lässt nach einer Weile nach. Wissen Sie, zuerst dachte ich, verfrühte Menopause.»
«Was?»
«Das ist keine Schande. Passiert manchmal sogar Zwanzigjährigen. Ist es wahrscheinlich aber nicht. Ist wahrscheinlich schlicht Stress. Sie hatten noch nie eine Fußreflexzonenmassage?»
«Na ja … nicht so. Nicht so, dass es wirklich weh tat.»
«Manche sogenannte Ärzte spielen damit nur rum. Wellness-Massagen, die keinem nützen. Entschuldigung, Schätzchen, was wollten Sie fragen?»
«De Molay. Ich wollte fragen, wo er gewohnt haben könnte. Als er hier war.»
«Sie müssen sich wirklich ausruhen. Urlaub machen. Wann haben Sie zuletzt Urlaub gemacht?»
«Vor vier Jahren? Fünf? Ich weiß nicht, da haben wir noch nicht hier gewohnt. Das war in einem anderen Leben.»
«Ich spüre, dass Sie die Probleme anderer Menschen mit sich herumtragen, wie kleine schwere Säcke.»
Wieder das Teppichmesser, das sich seitlich in einen großen Zeh fraß.
«Säcke, die immer größer und immer schwerer werden», sagte Mrs. Morningwood.
Merrily schloss die Augen. Das lief nicht so, wie es laufen sollte. Sie hatte geplant, hereinzukommen, mit wachem Blick, und sich ein paar klare Antworten abzuholen:
Mrs. Morningwood, Sie haben Jane und mich neulich doch nicht zufällig getroffen, Sie haben einen Zweck verfolgt,
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