Das Geständnis der Amme
stickigen Atmosphäre des Saals, wäre es leicht gewesen, sich dem allgemeinen Rausch hinzugeben. Doch anstatt sich wie üblich davon bestechen zu lassen, dachte er plötzlich nur, wie angenehm und erquickend ein Augenblick der Stille wäre, ein Augenblick, da er in offene, klare Gesichter blicken konnte, nicht in verzerrte, trunkene …
Judiths Gesicht war klar. Eben beugte sie sich zu ihrem Bruder, raunte ihm etwas ins Ohr. Ludwig achtete gar nicht darauf. Dann erhob sie sich leise – nur Madalgis und Balduin bemerkten es.
Offenbar wollte sie sich unauffällig zurückziehen, und fast gelang es ihr auch, den Saal zu verlassen, als Balduin aufsprang und sich ihr in den Weg stellte. »Wartet!«, rief er mit Panik in seiner Stimme, als hinge von ihrer Gegenwart nichts Geringeres ab als das Heil seiner Seele.
Verwirrt hob sie die Augenbraue. Selbst Ludwig gewahrte nun, was vor sich ging, und wandte sich dem einstigen Freund und Waffengefährten zu.
»Was willst du, Balduin?«, schnaubte er, und seine Stimme klang nicht mehr fröhlich und erregt, sondern nörgelnd. »Lass meine Sch-Sch-Schwester in Frieden!«
Balduin stieg es heiß ins Gesicht, indes sich ihm alle Anwesenden zuwandten. Die vielen Blicke spürte er nicht – den von Judith aber nur allzu deutlich. Besonnen ruhte er auf ihm, versuchte offenbar aus seiner Miene zu lesen, was er bezweckte. Er fühlte sich ertappt, ohne überhaupt zu wissen, warum eraufgesprungen war, warum er es nicht ertrug, sie gehen zu sehen.
»Wartet!«, sagte er wieder. »Ich denke, wir haben genügend Schalk gehört. Jedoch ist das Glück eines jungen Paares der Anlass dieses Abends. Sollte der Barde darum nicht etwas vortragen, was den Damen zu Herzen geht?«
Noch ehe die Versammelten ihm zustimmten, Ludwigs verdrießlich verzogene Stirn sich glättete und Judith einen weiteren Schritt in Richtung Türe machen konnte, wandte er sich dem Sänger zu, der mit dem Possenreißer und dem
Joculator
gekommen war, und hieß ihn, ein Liebeslied zu singen.
»Aber welches?«, fragte der Barde, ob dieser Hast verwirrt, gleichwohl er doch viele Liebeslieder im Kopf haben musste.
Balduin dachte nicht lange darüber nach, sondern nannte ihm eine bekannte Mär, mit der viele fränkische Kinder aufgewachsen waren – so wie er selbst.
»Es lebte einst die Tochter eines Königs und einer Königin. Doch sie lebte nicht in einer Feste, wie es ihr zustand, sondern in einer Höhle, die unterhalb der Erde lag.«
Mit jedem Wort, das er in einem leichten Singsang vortrug, trat der Barde weiter in die Mitte des Saales. Nicht alle waren begeistert, seine Geschichte zu hören; den ersten Satz störte noch Getuschel. Doch als er schließlich lauter sang und dem Zitherspieler auftrug, ihn zu begleiten, da gewann er rasch sämtliche Aufmerksamkeit.
»Ja, die Prinzessin lebte fernab von ihrer Heimat. Denn noch im Kindesalter hat sie ein heimtückischer Onkel aus der Wiege gerissen und entführt, weil sie die Erbin ihres Vaters war, er selbst jedoch dessen Reich beherrschen wollte. Seitdem dachte ein jeder, das Kind sei von wilden Wölfen verschleppt und gerissen worden, denn der böse Onkel hatte einige blutbefleckte Laken in der Wiege zurückgelassen. Bei deren Anblick starb die Königin vor Gram, und der König sprach nie wieder auch nur ein Wort. Der Onkel aber brachte die Prinzessin in eine Höhle, weihte einzigeine alte Frau ein, die sich ihrer anzunehmen hatte, und zog sie auf – ihr später bekundend, dass er ihr Vater sei und er sie nur um ihres eigenen Wohles willen gefangen hielte.«
Balduin lauschte gebannt dem Rhythmus der Worte, der sanften Melodie. Ja, er kannte die Geschichte gut. Nicht Johanna hatte sie ihm einst erzählt – sie war nicht sonderlich gut darin – und auch nicht Alpais, die ihm einzig die Legenden großer Heiliger vortrug, jedoch eine der Mägde, Adallinda. Johanna hasste sie bis aufs Blut, das wusste er, aber sie war bekannt dafür, Geschichten lebendig erzählen zu können, und als er noch zu klein war, um von Arbogast in der Kriegskunst unterwiesen zu werden, hatte er sich manchmal in die Küche geschlichen, um ihr heimlich zuzuhören.
»Ja, der böse Onkel fand Mittel und Wege, die Prinzessin glauben zu machen, dass ihr Gefängnis kein solches sei, sondern vielmehr dazu diene, ihr das Leben zu retten«, fuhr der Barde fort. »Denn sie sei kein Mensch wie alle anderen, so sagte er ihr. Nur inmitten des dunklen Steins könne sie leben – würde sie aber die
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