Das Geständnis der Amme
Sonne erschauen, so müsste sie sterben. Das Mädchen war einsam, denn weder der Onkel sprach viel mit ihr noch die alte Frau, die sie versorgte. So redete sie gegen die Wände, und sie vermeinte, dass das Echo ihrer Worte, das vom Stein hallte, womöglich die Antwort ihrer Schwester sei, die hinter den Wänden in einer ähnlichen Höhle gleichfalls ein Leben als Gefangene friste. So zogen viele Jahre ins Land. Als die Prinzessin ein kleines Mädchen war, weinte sie oft, aber irgendwann färbte der kalte, tote Stein auf sie ab. Ihr Herz wurde hart wie dieser, und sie fühlte weder Einsamkeit noch Trauer um die gefangene Schwester, die sie so nah und doch so fern wähnte.«
Balduin suchte nach Judith. Jetzt erst konnte er sich vergewissern, dass sie im Saal geblieben war. Zunächst stand sie mit gesenktem Kopf, doch dann hob sie ihn langsam, und ihre blauen Augen trafen seine.
»Eines Tages tobte nicht weit von der Höhle ein schrecklicher Krieg«, berichtete der Barde in seinem Singsang, »davon entfacht,dass der alte König gestorben war und sich gleich mehrere, darunter des Mädchens böser Onkel, um das Erbe stritten. Einer der Krieger wurde schwer verwundet; er dachte schon, er müsste sterben. Doch dann schleppte er sich mit letzter Kraft in die Höhle, wo er augenblicklich in eine tiefe Ohnmacht sank. Als er wieder erwachte, wusste er nicht, wie viel Zeit vergangen war, ob eine Stunde, ein Tag, ein Jahr. Er blickte in das Gesicht eines Mädchens, das so überirdisch schön war, dass er meinte, ein Engel Gottes hielte seinen Kopf weich im federnden Schoß gebettet. Doch als das Mädchen den Mund aufmachte und mit ihm redete – es war in einer Sprache, die er nicht verstand –, so wurde ihm plötzlich eiskalt ums Herz, er begriff nicht, warum. Wieder versank er in Schwärze, und wieder erwachte er, ohne dass er wusste, wie lange er geschlafen hatte. Das Mädchen gab ihm zu essen; sie verband seine Wunden, und es währte nicht lange, da war sein Körper kräftig genug, um aufzustehen. Immer noch fiel es ihm schwer, des Mädchens Worte zu verstehen, doch mit vielerlei Gesten deutete sie ihm an, er müsse eiligst fliehen, denn an diesem Orte wäre er nicht sicher. Wenn ihr Vater ihn fände, so würde er ihn töten oder aber im Felsen gefangen halten. Der Krieger zögerte; er hatte Angst vor den Worten des Mädchens, weil sie stets aufs Neue Kälteschauder durch seine Brust jagten, aber von ihrer Schönheit war er derart gebannt, dass es ihm schwerfiel, sie hier zurückzulassen. Da plötzlich erschien eine alte Frau an der Seite des Mädchens, die er bislang nicht gesehen hatte. Er verstand nicht, was sie zu dem Mädchen sagte, nur, dass dessen Gesicht am Ende von Zweifel zerrissen schien.«
Balduin wusste kaum, was er tat, während er zuhörte. Mehr und mehr gingen seine Hände mit ihm durch, unterstrichen die Worte des Barden. Mal ballte er sie furchterregend zur Faust, mal zeichnete er die Form der Höhle nach. Die Stimme des Sängers veränderte sich ebenso, war zunächst dröhnend laut, dann wieder flüsternd leise.
»›Du kannst hier nicht bleiben!‹, dies waren die Worte der Alten, die der Krieger nicht verstand, die Königstochter jedoch nurzu gut, ›ein junges Mädchen wie du sollte hier nicht hausen, es ist kein rechter Ort. Geh mit dem Krieger, sei glücklich an seiner Seite und kehre nicht wieder zurück. Denn der Mann, den du für deinen Vater hältst, will dir nichts Gutes. Glaube mir!‹
›Wie aber kann ich gehen?‹, fragte das Mädchen. ›Mein Herz ist aus Stein, und trifft mich das Licht der Sonne, so muss ich sterben. Einzig hier kann ich leben.‹
›Du solltest es versuchen! Besser ist’s, im Sonnenlicht zu sterben, als in der Finsternis zu bleiben.‹
Die Prinzessin zögerte lange, draußen war es inzwischen Nacht geworden. Doch als es dämmerte, deutete sie dem Krieger an, er möge sie mit sich nehmen und ins Freie bringen. Die Morgenröte spann goldene Fäden über den See, zu dem die Höhle führte. Das Wasser war eisig kalt, als das Mädchen darin watete, doch noch kälter wurde es in ihrer Brust, als sie ins matte Licht trat. Es spiegelte sich in ihrem Gesicht, in ihrem kräftigen Haar, und der Krieger meinte, sie sei noch nie so schön gewesen wie heute, aber in ihrer Brust, wo das steinerne Herz saß, da verspürte sie einen Schmerz, der sie gequält aufschreien ließ. Noch waren sie nah genug an der Höhle, und von den Wänden echote dieser Laut, wie einst, wenn sie mit
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