Das Geständnis der Amme
er weniger gebrauchen, als dass sie ihm mit ihren Sorgen um seinen Ruf in den Ohren lag.
Balduin überflog den Brief. Ohne jegliche Anrede war er gehalten, ohne jede Grußformel.
Verlasst Sentis so schnell wie möglich. Wenn Hinkmar hier erscheint und obendrein der König, so mag das bedeuten, dass sie von meinen Plänen erfahren haben. Vielleicht haben sie auch endlich einen Mann gefunden, der als mein dritter Gatte taugt. Geht von hier fort, Balduin, sprecht mit niemandem über das, was wir gemeinsam planten, und dreht Euch nicht nach mir um.
Balduin sprang auf. Rasch rollte er den Brief zusammen, verbarg ihn unter seinem Umhang. In seinem Kopf hämmerte die Gewissheit, dass Judith Recht hatte, dass er Senlis verlassen sollte, dass sie den richtigen Zeitpunkt verpasst hatten. Doch lauter als diese Gedanken klangen seine Schritte, als er Adelheid hinterherhastete.
»Adelheid!«, rief er.
Wieder konnte ihm das scheue Mädchen nicht ins Gesicht sehen.
»Die Königin vertraut dir doch, nicht wahr?«, fragte er atemlos. »Kann ich dir auch vertrauen? Kannst du der Königin etwas ausrichten … und es keinem anderen Menschen sagen?«
Das Mädchen errötete, nickte aber.
Was tue ich da?, fragte sich Balduin, doch da waren die Worte bereits gesagt, rissen jegliche Besonnenheit und nüchterne überlegung einfach mit sich.
»Frag die Königin … frag sie, ob sie immer noch fliehen will.«
Brügge, A.D. 864
Johannas Herz flatterte zunehmend hilflos wie ein kleines Vögelchen, das aus dem Nest gefallen war, aber noch nicht ausreichend gelernt hatte, sich in die Lüfte zu schwingen. Die schwindende Kraft verlangte Entscheidungen: welche Worte sie noch sagen sollte und welche nicht.
Sie hätte sich Balduin gerne ausführlich erklärt, hätte ein umfangreiches Bekenntnis all dessen abgelegt, was sie angerichtet hatte. Sie konnte seine Ratlosigkeit, sein Unverständnis fast körperlich spüren – vielleicht, weil sämtliche anderen Sinne langsam einzuschlafen drohten.
Da sie nichts sagte, überschüttete er sie mit Fragen. »Ist es Judith, von der du sprichst? Du hast gesagt, dass du schwere Schuld auf dich geladen hast und nun dafür büßen musst. Hast du dich an Judith versündigt? Und wenn es so wäre! Das ist doch kein Grund, dafür zu sterben. Glaub mir … was immer du getan hast … ich bin mir sicher, sie hat dir alles vergeben. So wie ich auch.«
Johannas Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Nicht selten hatte sie nicht nur um Balduins Leben gebangt, sondern auch um seine Seele, hatte befürchtet, dass sie so tief im Morast versinken würde wie die eigene. Oft hatte sie ihn angeschaut und sich gewundert, wie ähnlich er ihr geworden war: ein Getriebener, ein von Erinnerungen Verfolgter.
Doch in Augenblicken wie diesen, da er so leichtfertig von Vergebung sprach, fragte sie sich, ob entgegen all ihrer Sorgen seine Kraft für einen unbeschwerten Neuanfang womöglich viel größer war als ihre. Vielleicht auch größer als die von Judith. Seine Narben mochten nicht minder tief sein, aber vielleicht war die Haut, die darüber zusammenwuchs, dicker und gefühlloser.
»Es …es geht nicht um Judith«, hauchte sie. »Nicht nur … «
Er beugte sich dicht über sie, um sie besser zu verstehen, das fühlte sie an seinem heißen Atem.
»Hast du uns damals an den König und Hinkmar von Reims verraten?«, fragte er. »Hast du sie vor Judiths geplanter Flucht gewarnt? Ich habe oft darüber nachgedacht, ob es so gewesen ist. Aber ich wagte nie, dich zu fragen.«
Johanna holte tief Luft. Der Raum begann sich zu drehen –oder vielleicht war es ihre eigene Seele, die da ziellos kreiste, noch nicht ganz entlassen aus dem hiesigen Leben, noch nicht ganz befreit von den Fesseln der Leiblichkeit.
»Ich hab es getan«, murmelte sie. »Vergib mir. Aber ja, ich habe es getan. Ich hielt es für das Richtige … damals.«
Er hob ihre Hand, jene dünnen Finger, von denen sie gerade noch gedacht hatte, das Fleisch wäre schon von ihnen gefallen und nur das nackte Knochengerüst übrig geblieben.
»Es ist so viel Zeit vergangen seitdem …Es zählt jetzt nicht mehr«, sagte er rasch.
Er hauchte einen Kuss auf ihre Hand, sie versuchte seine Hand zu drücken, aber es gelang nicht.
»Jedoch …«, seufzte sie, »das meine ich nicht. Das ist nicht die Schuld, wegen der ich sterbe. Was bedeutet mein damaliger Verrat, gemessen an dieser Schuld? Sie ist so viel größer … so viel unv erzeih licher. «
Er ließ
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