Das Geständnis der Amme
nun, das Kind muss auch tot sein, sonst würde sie es doch bei sich haben.«
»Das leugne ich alles nicht«, entgegnete Gudula, »aber der Tod eines Gatten ist doch leichter zu ertragen, wenn man ein Kleid für vierzig Denare trägt, anstelle dieses abgerissenen Fetzens, mit dem sie hier ankam. Und der Tod eines Kindes …«
Ihre Worte rissen ab, ihre Augen weiteten sich schreckerfüllt. Beide Frauen hatten Johanna nicht kommen sehen. Fast lautlos hatte sie sich angeschlichen, um dann mit einer Handbewegung an Gudulas Kehle zu fassen und jene langsam zuzudrücken, sodass die andere erst rot, dann blau im Gesicht wurde. Bis zudiesem Augenblick hatte Johanna vergessen, wie kräftig sie war. Jetzt erfüllte es sie mit einem diebischen Vergnügen, dass Gudula mit letzter, aufbäumender Verzweiflung an ihrem Handgelenk zu rütteln versuchte, aber nichts gegen sie auszurichten vermochte.
Adallinda schrie entsetzt auf. »Nicht!«, rief sie. »Nicht! Du bringst sie noch um!«
Johannas Griff lockerte sich, jedoch nur ein klein wenig.
»Hör mir gut zu«, sagte sie zu Gudula, und ihre Stimme war kaum mehr als ein Raunen. »Wenn du dergleichen noch einmal sagst, bist du tot.«
Kaum war ihr letztes Wort verklungen, löste sie ebenso rasch, wie sie zugepackt hatte, die Hand von Gudulas Kehle. Röchelnd sackte die Frau auf die Knie, rang nach Luft und gewann langsam die gesunde Gesichtsfarbe wieder. Ängstlich trat Adallinda zurück. »Wir wollten doch nicht …«, stammelte sie hilflos.
»Sag es auch allen anderen Frauen«, meinte Johanna kalt. »Wer jemals behauptet, ich hätte es gut getroffen, der stirbt durch meine Hand.«
Noch ehe Adallinda nicken konnte, hatte sich Johanna schon abgewandt, um das Küchengebäude zu verlassen. Als sie draußen im Hof in die Sonne trat, spürte sie, wie kräftig das Blut plötzlich durch ihre Adern rann, wie heftig ihr Herz pochte, wie entschieden sich sämtliche Muskeln und Sehnen anspannten – so als hätte es die Todesstarre nie gegeben, in der sie in den letzten Monaten gefangen schien. Kurz war es eine Wohltat, so viel Leben in sich zu spüren, doch im nächsten Augenblick schien es ihr unerträglich. Was immer diese Kraft in ihren Leib pumpte, es setzte auch ihre Gedanken in Gang. All die Worte, die in den letzten Monaten an sie gerichtet gewesen waren, denen sie sich jedoch verweigert hatte, prasselten nun auf sie ein, in einem wilden, fast unverständlichen Chor – die Worte jener Menschen, die sie befragt und die über sie getuschelt hatten, all das ängstliche Gerede über die Normannen.
»Sag, was geschehen ist in deinem Dorf …«
»Denkt ihr, die Normannen werden auch hierher nach Laon kommen?«
»Nein, nein, sie haben die Seine wieder verlassen, sind zurück in ihre Heimat gekehrt!«
»Was ist mit deinem Mann geschehen, Weib? Was haben sie mit deinem Kind gemacht?«
»Gütiger Himmel! Es gibt nun eine neue Gruppe von Normannen, die raubend und brandschatzend durchs Land zieht, diesmal sind sie über die Loire gekommen!«
»Ja, aber diesmal hat König Karl nicht versäumt, sein Land zu schützen. Er hat die Verteidigung an Renaud de Nantes übergeben, und der hat sie vertrieben.«
»Großer Gott, steh uns bei!«
»Gott hat sie uns doch geschickt! Sie kommen als Geißel, um uns zu strafen: wegen der Sünden des Volkes, der Unwürdigkeit der Geistlichen und der Großen.«
»Denkt Ihr, dass auch diese Frau hier gesündigt hat, wenn sie Heimat und Familie verloren hat?«
Johanna verschloss die Augen vor der grellen Sonne und schlug ihre Hände über die Ohren, auf dass sie nichts mehr hören musste. Wie blind und taub lief sie über den Hof zurück in das Hauptgebäude, schnell und atemlos, bis die vielen Stimmen leiser wurden. Es war, als würden sie nicht in ihrem Kopf toben, sondern als könnte sie vor ihnen flüchten.
»Bitte nicht!«, stammelte sie, und ihre flehende Stimme hatte nichts gemein mit der heiseren Drohung, die sie eben noch wider Gudula ausgestoßen hatte. »Bitte nicht!«
Die Stimmen waren gnädig, wurden leiser und leiser, erstarben wieder – ebenso wie ihre Kräfte. Ihre Knie schlotterten, ihre Hände wurden schweißnass. Unmöglich schien es ihr, noch einen weiteren Schritt zu tun, geschweige denn, ein Weib wie Gudula zu packen und beinahe zu erwürgen.
Außer Atem hatte sie das Gemach erreicht, sie musste nur noch eintreten, die Türe schließen und alles wegsperren, was ihren Seelenfrieden bedrohte. Doch als sie in den Raum kam, trafsie
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