Das Geständnis der Amme
nicht nur auf den schlafenden Balduin, sondern auch auf eine fremde Gestalt.
Johanna schreckte zurück. Vor den Stimmen hatte sie fliehen können, nicht jedoch vor diesem Mann.
»Er ist größer geworden«, stellte Audacer fest. Seine Stimme klang nicht bewundernd oder gerührt, sondern grollend, als wäre jenes Gesetz der Zeit, wonach Säuglinge nicht Säuglinge bleiben und Kinder nicht Kinder, eine Zumutung.
Johanna wusste, wer er war. Zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie sich sogar seinen Namen eingeprägt. Warum er jedoch hier war, konnte sie sich nicht recht erklären. Der Graf kam oft, betrachtete sein Patenkind dann liebevoll, hatte es sogar mehrmals hochgehoben, gleichwohl dies für einen Mann ein durch und durch absonderliches Verhalten war. Ein gutmütiges und irgendwie dümmliches Lächeln war dabei auf seinem Gesicht erschienen. Auch Alpais, seine frömmelnde und meist schweigende Gattin, der Gott der Allmächtige keine Kinder geschenkt hatte und die ihr Schicksal mit demütiger Miene trug – irgendwie auch mit einer trägen, als wäre sie zu faul, das Walten des Schicksals zu hinterfragen –, ja, auch diese überwachte das Gedeihen des kleinen Balduin. Sie berührte ihn nie, sondern blieb stets in einigem Abstand stehen, als gelte es, sich vor der dreisten Lebendigkeit zu schützen, die ein gesunder Säugling versprüht. Aber ihre Miene war nie verbittert. Entweder weil ihr nichts anderes einfiel oder weil sie eben eine durch und durch gottesfürchtige Frau war, hob sie des öfteren die Hand und schlug ein segnendes Kreuzzeichen über der Wiege.
Audacer hingegen – der Einzige, der mit dem kleinen Jungen blutsverwandt war – blickte nun missgünstig auf seinen Sohn hinab.
»Er hat meine Frau getötet«, sagte er schließlich.
Johanna hob den Kopf. Sie sehnte sich so sehr nach Ruhe und Gleichgültigkeit, doch seine Worte schreckten sie auf. Nicht wegen der Verzweiflung und Wehmut, die in ihnen mitschwangen,sondern wegen des übermaßes an Trotz, mit dem Audacer sich nicht nur jeder Regung von väterlicher Liebe widersetzte, sondern auch dem schlichten Gesetz, wonach der Herr nimmt, der Herr gibt und man Ihn trotz allem zu loben und zu preisen hat.
Plötzlich ließ sein starrer Blick das Kind los und saugte sich an Johanna fest.
»Sie war ein gutes Weib«, sagte er. »Hildegund meine ich. Sie hat nicht zu viel geredet, sie hat nie über die Arbeit geklagt, sie war weder hoffärtig noch habgierig. Sie merkte von allein, was die Menschen sich wünschten. An ihrer Seite … an ihrer Seite konnte ich friedlich leben.«
Er trat näher, und Johanna erkannte, dass ihm solch ein friedliches Leben nun nicht mehr gegönnt war. Nicht nur, weil seine Augen blutunterlaufen waren und sein Atem schlecht roch – so wie bei all jenen, die sich beim Genuss von Bier keine Grenzen auferlegten. Obendrein kündeten eine blaue Geschwulst an der Wange, eine blutige Kruste auf der Stirn und ein Riss im Ohr davon, dass er in irgendwelche Händel geraten sein musste, wie sie sich unter Männern manchmal zutrugen. Er ballte seine Hände zu Fäusten. Etwas Rohes, Unbeherrschtes ging davon aus, das sie ängstigte.
Unwillkürlich trat sie zu der Wiege und hob das Kind heraus. Es hatte den Besuch seines Vaters verschlafen, erst jetzt öffnete es seine wasserblauen äuglein. Nie hatte sie sich bisher zu etwas anderem verpflichtet gefühlt, als ihm die Brust zu reichen und es zu versorgen, wie es einer
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oblag. Zum ersten Mal regte sich nun der Wunsch, es zu beschützen.
»Er ist so klein …«, stammelte sie, und sie wusste den Schmerz nicht zu deuten, der plötzlich in ihr aufwallte. Er war stechender als das Unbehagen, das sie verspürt hatte, als die Frauen über sie tratschten, quälender als die Sehnsucht nach Stille. Er kündete davon, dass da ein verwundbares Wesen ihrer Obhut anvertraut war und sie nicht sicher sein konnte, ob sie es tatsächlich von der grausamen Welt abschirmen konnte. Vertraut war dieses Gefühl –ebenso wie jenes, darin zu scheitern.
Doch Audacer verstärkte seine bedrohlichen Gesten nicht. Seine Fäuste öffneten sich wieder.
»Nun gut«, sagte er plötzlich, und es klang fast wehleidig, »ich will ihn nicht haben, der Graf hingegen schon. Er braucht einen Sohn, weil seine Frau ihm keinen gebären kann. Und ich, ich kann gut und gern auf ihn verzichten.«
Johanna schloss die Arme fester um das Kind. Es blickte sie schlaftrunken an, gab aber keinen Mucks von sich.
»Er ist Euer
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