Das Geständnis der Amme
geblieben war. Schmerz widersetzt sich der Ordnung der Zeit – und Schmerz war es, der auf sie einstach. Er verstärkte sich beim Einatmen und ging auch nicht fort, wenn sie die Luft entweichen ließ. Er war so übermächtig, dass sie nicht entscheiden konnte, ob seine Wucht sie zu vielen kleinen Fetzen zerreißen würde oder ob er ihre Haare ergrauen, ihre Kehle Blut spucken, ihre Haut verkohlen ließe, bis diese schließlich schwarz würde, so wie bei Gliedmaßen, die der Wundbrand auffrisst. Die Stelle an der Stirn, wo sie auf dem Boden aufgeprallt war und wo sich gewiss eine bläuliche Beule bilden würde, zeugte im Vergleich zu diesem Schmerz von einem lächerlich geringen Weh.
»Ich kann nicht«, stammelte sie, »ich kann es nicht ertragen.«
Der Schmerz bündelte sich. Tief drinnen erwuchs die Erkenntnis, was sie von allem Schrecklichen am wenigsten ertragen konnte.
»Ich kann nicht«, stammelte sie wieder. Erstaunlich nüchtern überlegte sie, auf welche Weise der Schmerz sie töten würde, obsie einfach daran ersticken, ob er ihr die Eingeweide zerreißen, ob ihr Herzschlag aussetzen würde.
Sie wartete, dass etwas davon geschehen möge, doch nun, da sie die Körperregungen belauerte, schienen sich diese zu entspannen. Das Pochen des Herzens verlangsamte sich, aber es setzte nicht aus. Der Atem beschwichtigte sich, aber er blieb nicht stehen. Auch der Druck in der Brust und im Magen ebbte ab. Es stimmte sie nicht erleichtert, sondern verzweifelt. Wie konnte der gefällte Körper den inniglichsten Wunsch verweigern, nicht weiterzuleben?
Stöhnend richtete sie sich auf, gewillt, nach Mitteln und Wegen zu suchen, um dem Leib seine plumpe Lebensgier mit Gewalt auszutreiben. Ihr Blick verschwamm, die Nachwirkungen des Aufpralls holten sie in Form von vielen kleinen, lichten Pünktchen ein, die vor ihren Augen tanzten. Als sie sich endlich klärten, blickte sie in blaue Augen, die sie unverwandt anstarrten.
Lautlos war das Kind zu ihr gekrabbelt, ebenso unberührt von Audacers kaltherziger Entscheidung wie von ihrem Zusammenbruch. Es musste auf den Knien gerobbt sein, stützte sich jetzt auf den winzigen Händchen auf wie ein Welpe, starrte erwartungsfroh – und lächelte.
Johanna blickte den kleinen Balduin an, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
Sie ließ ihn regelmäßig an ihren Brüsten trinken, hatte ihn manchmal vor dem Stillen gebadet und danach eingeölt, damit er keine Abszesse bekäme. Sie hatte die Schnittstelle des Nabels mit Pulver aus Kreuzkümmel oder Myrrhe behandelt und sie dann mit einem in Olivenöl getränkten Baumwolltuch bandagiert, und sie hatte seine Zunge mit Honig, Salz und Weihrauch eingerieben, damit das Kind irgendwann ordentlich zu sprechen lernte. Sie hatte vor kurzem begonnen, ihm neben der Milch auch Honigwasser, in Rinder- oder Hühnerbrühe eingeweichtes Brot und Haferschleim zu geben.
Doch das alles hatte sie gedankenlos getan oder über sich ergehen lassen, ohne das Kindlein auch nur einmal eingehend zubetrachten. Jetzt tat sie es – und sie erkannte Unschuld und Reinheit. Nichts hatte das Gemüt des Kindes bislang zerkratzt. Die bösen dunklen Schicksalsmächte hatten ihren Geifer noch nicht auf seine zarte Seele gespuckt.
Johanna richtete sich noch weiter auf, streckte unwillkürlich die Hände aus, ergriff den weichen Leib an seinen Schultern und zog ihn an sich. Bei alldem hatte sie noch keine Entscheidung getroffen, ob sie das Knäblein künftig lieben würde oder ob sie ihm neiden würde, dass es lebte, ihr eigenes aber nicht. Als sie über das Köpfchen streichelte, zogen sich die Mundwinkel des Kindes noch weiter auseinander. Da roch sie das Kind – nicht nur die Haut und dessen süßliche Ausdünstungen, nicht nur die feinen Haare und den milchigen Speichel –, sie roch das Lächeln. Und das Lächeln roch wie Licht. Warm und wohlig, köstlich und reinigend.
Sie zog das Köpfchen an sich, drückte es, als könnte sie dadurch noch mehr von diesem gnädigen Labsal herauspressen, überrascht, dass das Kind ihr dergleichen schenken konnte, wo doch alle Welt wusste, dass der Geist der Kinder vollkommen leer war, formbar wie Wachs. Doch vielleicht war gerade das so tröstlich.
Da machte der Knabe einen quäkenden, unwilligen Laut. Befremdend war offenbar diese heftige Umarmung. Er verzog seinen Mund, quengelte noch lauter und kniff die blauen Augen zusammen, um alsbald verstörte Tränen zu weinen.
Entsetzt lockerte Johanna ihren Griff. Die Angst, sie könnte
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