Das Geständnis der Amme
Schuhmachers wechselte, die einen stillen, jedoch bodenständigen Eindruck machte.
Sie waren nicht allein auf der Straße, in der vielerlei Wagenspuren und Pferdehufe tiefe Rillen und Löcher hinterlassen hatten. Einmal stießen sie auf ein Grüppchen Bauern, die sämtliches Hab und Gut auf einen Ochsenkarren geladen hatten und die, wie sie berichteten, auf der Suche nach besserem Boden waren. Der ihres Heimatdorfs sei zu ausgelaugt, sodass sie nun seit Jahren nichts als Missernten gehabt hätten. Den älteren von ihnen standen Hunger und Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, den Jüngeren Neugierde und Aufbruchstimmung. Noch zerrissener und dreckiger als deren Kleidung war die eines jungen Paares, das am nächsten Tag mit gesenktem Kopf zu ihnen trat und um etwas zu essen bettelte. Balduin gab ihnen, weil er mit dem eigenen Proviant sparsam sein wollte, einen Denar, den sie nicht minder dankbar annahmen, um dann alsbald wieder auf einen der kleinen, unebenen Seitenwege der Straße auszuweichen.
»Wahrscheinlich flüchtige Sklaven«, meinte er und konnte nichtumhin, ein kurzes Stoßgebet gen Himmel zu richten, auf dass deren Flucht gelänge – erinnerte sie ihn doch an die eigene.
Wovor jene armseligen Menschen davonliefen, zeigte sich bald darauf, als ihnen – von Osten her – ein stinkender, stöhnender Zug entgegenkam: Menschen, die man aus Böhmen oder den wendischen Gebieten verschleppt hatte und die nun quer durch das Reich transportiert wurden wie Tiere, um irgendwo in der Fremde die schändlichsten Dienste zu versehen. Ein weitaus tröstlicherer Anblick war der der Pilger, die sich – Psalmen betend – auf dem Weg zu einem Wallfahrtsort befanden, um dort Buße zu tun oder Reliquien zu verehren.
Irgendwann wurde Balduin es müde, all jenen, die ihnen entweder entgegenkamen oder die sie überholten, ins Gesicht zu sehen. Er starrte nur mehr vor sich auf die Straße, lauschte auf das gleichmäßige Klappern der Pferdehufe und geriet so in jenen schlafähnlichen Zustand, den er während der Kriegszeiten oft genutzt hatte, um sich unterwegs zu erholen.
Judith war wacher als er. Wann immer er hochschreckte, sah er, mit welchem Interesse sie alles wahrnahm, sei es nun die Landschaft, die Straße oder die Menschen. Sie, die sich in Senlis kaum bewegt hatte, wendete nun den Kopf nach rechts und links und ließ es sich auch nicht nehmen, sich umzudrehen, wenn irgendetwas ihre besondere Aufmerksamkeit erregt hatte – so wie an einer Stelle die vielen kleinen Hölzer, die irgendjemand mit bunten Bändern an die äste der Bäume gebunden hatte und die im Wind sanft klappernd hin und her schaukelten.
»Welchem Zweck dient das?«, fragte sie.
»Diese Hölzer hängen nicht nur an den Bäumen, manchmal sieht man sie auch an den Wegkreuzungen«, erklärte Balduin. »Kranke Menschen haben sie angebracht, die sich den Arm oder das Bein gebrochen haben und die hoffen, dass die Gliedmaßen wieder zusammenwachsen, wenn sie erst diesem alten heidnischen Brauch Genüge tun.«
Erstaunt schüttelte Judith den Kopf, und er musste trotz seiner Müdigkeit lächeln. Er war sich nicht sicher, ob ihre Neugierdeund ihre Freude an der so lange vermissten Freiheit ein Zeichen dafür waren, dass sie nicht nur berechnend – so wie er es ihr vorgeworfen hatte –, sondern auch durchaus gefühlvoll war. Ein Beweis dafür, dass mehr in ihr steckte als die abgeklärte, resignierte Frau, die der Welt überdrüssig war, dass also Jugend und Lebendigkeit in ihr pochten, war es allemal.
In den folgenden Nächten fanden sie oft eine Bleibe in einer der
Xenodochien –
Unterkünfte für Pilger und Arme, die manchmal mit einem Hospital verbunden waren –, wohingegen sie die Klöster mieden. Jene mussten zwar, dem Gebot der Gastfreundschaft folgend, jeden Reisenden aufnehmen und im
Hospitium
schlafen lassen, doch zu groß war dort die Gefahr, dass irgendjemand, der des Lesens kundig war, von ihnen wusste und ihren Aufenthalt verraten könnte.
An jenem Tag, da sich ihre Wege von denen der Handwerksfamilie trennten, weil diese Richtung Norden, sie selbst aber weiterhin gegen Osten zogen, kam erstmals das zur Sprache, was sie hinter der Grenze von König Karls Reich erwarten würde. Dass jenes Gebiet – das Mittelreich zwischen dem Gebiet der Ostfranken und dem der Westfranken, das Lothringen hieß – von einem Vetter Judiths regiert wurde, wusste Balduin. Desgleichen, dass jener ihnen freundlich gesinnt schien und sie darum seit
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