Das Geständnis der Amme
Herrscher vom Friesland bis zum Jura, hieß sie auf jene ungezwungene Weise willkommen, die ihm zu eigen war. Nie erlebte Balduin in der kommenden Zeit bei ihm Standesdünkel – nicht, weil Lothar sich der königlichen Würde nicht bewusst gewesen wäre und sich den anderen Menschen gleich gefühlt hätte, sondern weil er viel zu bewegungshungrig war, um ein steifes Zeremoniell einzuhalten. Und obendrein, das gestand er schließlich mit einem Augenzwinkern, sei sein Geistzu träge, um sich zu merken, wann man sich vor wem zu verbeugen habe und welchem Würdenträger man nie den Rücken zuwenden dürfe. Gern sah er es den anderen nach, wenn sie manch strikte Regel des Benehmens missachteten, solange sie ihrerseits von ihm nicht forderten, tagelang still zu sitzen, sich von Notaren Dokumente erklären zu lassen oder Rechtsstreitigkeiten beizulegen, die zwischen den Großen des Landes entbrannt waren.
Als ihm Judiths und Balduins Ankunft gemeldet wurde, war er offenbar gerade damit beschäftigt, sich im Speerwerfen zu üben, denn mit einem ebensolchen in der Hand kam er in den Hof, und er legte ihn auch nicht ab, als er ungezwungen nach Judiths Hand griff und ihr eigenhändig vom Pferderücken half. Die herbeigeeilten Knechte scheuchte er fort.
»Du empfängst mich mit einer Waffe in der Hand?«, fragte Judith. Der Anflug des Lachens, das die Worte begleitete, deuchte Balduin echt. Doch als sie sich von Lothars Berührung löste, schien sie ihm augenblicklich steifer und starrer als in den letzten Tagen ihrer Reise. Es war, als wechsle sie – ohne jedes Zutun, allein durch alte übung dazu veranlasst – augenblicklich in die Rolle der unnahbaren Königin, sobald sie einem Mitglied ihrer Familie gegenüberstand.
Lothar blickte grinsend auf die Lanze. »Hast du Angst, ich könnte sie gegen dich richten, liebste Cousine?«
»Sollte ich? Du weißt doch von meiner Lage!«
»Sei unbesorgt. Du bist mir herzlich willkommen.«
Judith strich über ihre staubige Kleidung. »Dann habe Dank für diesen freundlichen Empfang, aber mach mir nicht vor, es sei ehrliche Zuneigung, die dich dazu treibt.«
»Was sollte es sonst sein?«, fragte er übertrieben gedehnt.
Wieder erwiderte sie sein Lächeln, doch es kam Balduin eigentümlich erkaltet vor.
»Lass uns ehrlich sein. Du hast genau zwei Gründe, uns hier willkommen zu heißen, werter Oheim. Du willst die Provence, was dich zum Feind meines Vaters macht. Und du kämpfst um deine Ehe und um deinen Sohn, was deine Position gegenüber denköniglichen Brüdern und Onkeln stärken soll. Warum jene dir wiederum sämtliche Hindernisse, die möglich sind, in den Weg legen – und du gerne die Gelegenheit nutzt, ihnen eins auszuwischen. Also gib keinen dritten Grund an, der da wäre, dass du dich nach einem Wiedersehen mit mir gesehnt hast.«
Lothar schien sich an ihrem unterschwellig bissigen Tonfall nicht zu stören. »Du darfst nicht vergessen, dass ich nicht zum ersten Mal einer aufrührerischen Dame ein Dach über dem eigenwilligen Kopf gewähre.«
»Richtig … Engeltrude«, Judith wandte sich Balduin zu und erklärte: »Jene hat eines Tages ihren werten Gatten Boso verlassen, um mit einem anderen Mann Tisch und Bett zu teilen, und sich hernach – als Hinkmar von Reims ihr befahl, augenblicklich zu Boso zurückzukehren – hier bei meinem lieben Cousin verschanzt.«
»Tja«, meinte Lothar leichtfertig, »es hätte sich doch nicht geziemt, eine fränkische Frau und noch dazu eine Verwandte – irgendwie ist unser Haus ja mit jedem Adeligen verwandt – einfach auszuliefern.«
»Von wegen!«, meinte Judith. »Sie hat gedroht, sich ansonsten den Normannen anzuschließen. Das war der Grund, warum du sie nicht verjagt hast. Wobei du es schließlich, nachdem der Bannfluch des Papstes sie getroffen hatte, dennoch tatest. Wo irrt die Arme eigentlich im Augenblick mit ihrem Liebsten umher?«
»Nun, du, liebe Judith, musst nun nicht in ähnlicher Ungewissheit leben«, sagte er. »Will’s gerne bekräftigen: Sei mir willkommen. Das letzte Mal, da ich dich leibhaftig sehen durfte – es war leider auch das einzige Mal, dass ich’s tat –, war ich gewiss, du würdest zu einer wahren Schönheit erblühen. Ich lag nicht falsch in dieser Annahme.«
Judith zog die Braue hoch, was Balduin an ihre erste Begegnung erinnerte, da sie mit dieser Regung ihrer Mimik nicht gespart hatte. Lange hatte er sie nicht mehr als diese Judith gesehen – als eine, die zu heftige Gesten mied, die
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