Das Geständnis der Amme
langem den Plan ausgeheckt hatte, an seinen Hof zu fliehen. Nun wollte er mehr erfahren.
»Wie kannst du sicher sein, dass er nicht auf die Idee kommt, uns deinem Vater auszuliefern?«
»Glaub mir«, gab Judith leichtfertig zurück, »auf wenig ist so sehr Verlass wie auf die Feindschaft, die zwischen sämtlichen Söhnen und Kindeskindern der Karolinger herrscht. Schon mit seinem Bruder Lothar L, dem Vater des jetzigen Lothar IL, war sich mein Vater immer spinnefeind, hatte doch jener mehr als einmal danach getrachtet, ihm das Reich streitig zu machen. Und Gleiches gilt für seinen Sohn, der gerne bei jedem Verrat und jeder Intrige mitmacht, die sich gegen meinen Vater richtet. Seitacht Jahren ist er nun auf dem Thron; nach dem Tod Lothars I. wurde er in Frankfurt zum König akklamiert. Ich glaube, mein Vater hat anfangs gehofft, ihn zum Verbündeten gegen seinen nicht minder verhassten Bruder Ludovicus Germanicus zu machen – doch im Zweifel stellte sich Lothar eher auf dessen Seite als auf die von Karl.«
Balduin runzelte die Stirne. Seit jeher war es ihm schwergefallen, die Herrschaftsverhältnisse der Karolinger bis ins Letzte zu verstehen, umso mehr, als viele von ihnen den gleichen Namen trugen und obendrein jedes Königreich beim Tod des Herrschers auf sämtliche Königssöhne verteilt wurde. Innerhalb weniger Jahre konnten sich Grenzen grundlegend verändern, nicht zuletzt dann, wenn einer dieser Herrschersöhne Krieg gegen den eigenen Bruder führte und ihn aus dessen Kronland vertrieb.
»So war es übrigens auch vor fünf Jahren«, fuhr Judith fort, »die schlimmste Zeit im Leben meines Vaters. Ich habe nicht viel davon mitbekommen, ich weilte ja in Wessex. Damals hat Ludovicus Germanicus, wie du sicher weißt, meinem Vater die
Gallia
streitig gemacht und in Attigny Hof gehalten – und wer kam dorthin, um ihn der Treue zu versichern? Ausgerechnet Lothar II. Mein Vater hat ihm das nie verziehen.«
Balduin nickte. Von jener Stunde rührten die Macht Hinkmars von Reims, der die Großen des Landes hinter sich versammelt hatte, um den ostfränkischen König wieder zu vertreiben, und das Misstrauen des Königs, das sein Sohn Ludwig so oft beklagt hatte – sofern es denn nicht schon lange zuvor in ihm zu wuchern begonnen hatte.
»Als Lothar freilich sah, dass mein Vater – der eine Onkel –sich gegen Ludovicus Germanicus – den anderen Onkel – durchsetzen konnte, hat er flugs wieder die Seite gewechselt, sich mit Karl versöhnt und feierlich erklärt, er wolle künftig als Vermittler zwischen den beiden Königen agieren.«
»Und das hat nicht lange angehalten?«
»Mitnichten! Freilich ist Lothar daraus kein Vorwurf zu machen. Die Wege des Herrn sind nämlich im Falle meiner Familienoch verschlungener als anderswo, ja, sie scheinen regelrechte Knoten zu schlagen. Es verhält sich so, dass Lothar nicht allein über jenes Mittelreich zwischen der
Gallia
und den Ostfranken herrscht, sondern ebenfalls mit zwei Brüdern geschlagen ist. Ich glaube, dass mein Urgroßvater, der große Karl, und noch vor ihm dessen Väter die Heilige Schrift gelesen haben, ehe sie sich zu ihren Frauen legten, um diese zu begatten, und darin auf die Geschichte Kains und Abels gestoßen sind. Wie anders lässt es sich erklären, dass bei uns der Bruderzwist schon mit der Muttermilch aufgesogen wird?«
»Lothar IL hat also zwei Brüder«, wiederholte Balduin, um nichts durcheinanderzubringen. »Was heißt, dass das Mittelreich eigentlich aus drei Teilen besteht.«
»So ist es. Wobei hinzuzufügen ist, dass einer der Brüder – er heißt Karl wie mein Vater – zu den Schwachsinnigen gehört, die regelmäßig weißen Schaum spucken. Er ist zwar Herrscher der Provence und von Burgund, doch ich bezweifle ernsthaft, dass er jemals einen eigenen Entschluss gefasst hat. Das Letzte, was ich von ihm hörte, war, dass er im Sterben liege. Vielleicht tut er das noch für viele Jahre, vielleicht ist er bereits tot. Der andere Bruder hingegen, der wiederum Ludwig heißt, hat von seinem Vater Lothar I. den Kaisertitel geerbt und ist Herrscher von Italien. Aber er will es nicht bleiben. Soll heißen: Natürlich möchte er der Herrscher Italiens sein, doch eben nicht nur. Er hätte gerne auch noch die Länder seiner Brüder.«
»Also die Provence und Burgund vom verrückten Karl und Lothringen von deinem Vetter Lothar, zu dem wir reisen.«
»In der Tat. Und damit kommen wir wieder auf den Grund der Feindschaft zwischen Lothar und meinem
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