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Das Geständnis der Amme

Das Geständnis der Amme

Titel: Das Geständnis der Amme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Krohn
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Schwert sich bedrohlich tiefer senkte. Wie viel Zeit war vergangen? Womöglich erst die Hälfte?
    Er versuchte sich abzulenken, indem er verzweifelt im Hof umherblickte, nach etwas suchte, worauf er sich konzentrieren könnte, um auf diese Weise die Last in seinen Händen zu vergessen. Es gab nicht viel zu sehen. In kleinen Grüppchen kamen Bauern. Der Sommer ging allmählich zu Ende, und es war an der Zeit, dem Grafen die Ernteabgaben zu überbringen. Er hörte, wie einer der Bauern sie laut benannte: »Vierzehn Scheffel Getreide, vier Ferkel, zwei Hühner, eine Metze Leinsamen, eine Metze Linsen!«
    Johanna hatte ihm einmal erklärt, dass die Bauern nicht Herren über ihren Grund waren, sondern dieser dem Grafen gehörte und dass sie ihn bezahlen mussten, weil er ihnen Land zum Bewirtschaften überließ. Desgleichen hatte sie ihm eindringlich erklärt, wie dankbar er sein musste, nicht ihrem niedrigen Stand anzugehören, sondern wie ein Sohn des Grafen erzogen zu werden. Ihre Worte hatten ihm eingeleuchtet, er mochte den Grafen von Herzen. Doch jetzt, da er auf die Menschen starrte, auf ihre braungebrannten Gesichter, ihre einfachen, grauen Kittel und ihre nackten Füße, die bei manchen fast schwarz waren vor Dreck, fand er ihr Los zwar nicht sonderlich erstrebenswert, aber immer noch besser als das seine.
    Auch sein zweiter Arm begann nun zu zittern. Nicht schwach werden!, ermahnte er sich selbst, obwohl er hätte heulen können. Nicht schwach werden! Sich nicht entblößen, nicht vor Arbogast.
    So hieß der Mann, dem der Graf Balduins Erziehung anvertraute, ebenso wie die seiner drei Neffen, die in Laon lebten, nachdem der Bruder des Grafen gestorben war. Sie waren älter als Balduin, und was Arbogast ihnen bei der ersten Begegnung kundgetan hatte, schien sie nicht weiter zu erschüttern, nicht so zumindest wie Balduin.
    »Ab heute seid ihr keine Kinder mehr!«, hatte Arbogast gesagt,nein eigentlich hatte er es gebrüllt. Balduin war zusammengezuckt, noch nie hatte jemand derart laut zu ihm gesprochen. »Ab heute seid ihr Männer! Ihr werdet Widrigkeiten wie Hunger, Kälte und Sonnenglut ertragen, ohne mit der Wimper zu zucken, verstanden? Wenn ihr euch als faul und aufrührerisch erweist, dann werdet ihr die Rute zu spüren kriegen!«
    Balduin hatte ihn sprachlos angestarrt, und dann hatte das Unheil begonnen. Ja, das Reiten gehörte zu der Ausbildung, aber leider nicht nur. Sie umfasste auch viel Unangenehmeres. Er musste das Bogenschießen erlernen, das Führen der Hunde – eine wilde, kläffende Horde, die ihm unendlich viel Angst machte – und die Falkenjagd. Am allerschlimmsten aber waren die vielen Scheinkämpfe mit hölzernen Schwertern, die er mit den drei Knaben auszufechten hatte – und die er immer verlor.
    Brüllend stand Arbogast dann neben ihnen, erteilte Befehle – und lobte hernach immer die anderen, nie ihn.
    Anfangs hatten die drei Jungen – Giso, Gerbert und Gerold mit Namen – ihn noch scheu gemustert, die Liebe witternd, die der Graf diesem Knaben entgegenbrachte, obgleich er doch nicht dessen leiblicher Vater war. Doch bald hatten sie herausgefunden, dass Balduin der Schwächste und Schutzloseste von ihnen war, und seitdem nicht aufgehört, über ihn zu spotten.
    Balduin zuckte zusammen. Ein Steinchen hatte ihn getroffen, mitten auf der Wange, klein, aber spitz. Obwohl er sich nicht umdrehen konnte, ahnte er, wer es auf ihn geworfen hatte – ein Verdacht, der nur allzu bald bestätigt wurde. Schon ergossen sich weitere Steine über ihn wie ein harter Regen, trafen die schmerzenden Arme und sein Gesicht, einer landete sogar fast in seinem Auge.
    »He!«, versuchte er zu schreien, vor Erschöpfung kam jedoch kein Laut aus seinem Mund.
    Dann waren Giso, Gerbert und Gerold schon bei ihm, umrundeten ihn mehrmals, als wollten sie einen Reigen tanzen, und riefen ihm vernichtende Worte zu: »Du elender Feigling! Aus dir wird nie ein ordentlicher Krieger! Wie ein Mädchen hast du gestern geflennt!«
    Der Kopf schien Balduin zu zerplatzen, vor Scham und Wut. Nicht den Knaben galt Letztere, sondern sich selbst und seiner verabscheuungswürdigen Schwäche, die er sich gestern Abend erlaubt hatte. Ein Gewitter war über sie hereingebrochen, hatte den Boden in Schlamm versinken lassen und ihn mit seinen Blitzen und dem Donner derart erschreckt, dass er heulend unter das Bett gekrochen war, um sich dort über Stunden hinweg nicht zu regen. In seiner Not hatte er nicht einmal bemerkt, dass auch

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