Das Geständnis der Amme
Balduin«, sie rang die Hände. »Hör doch darauf, was Gott dir sagen will. Er hat dich befreit – und führt nun Judith in die Hände ihres Vaters. Sie tut das im übrigen aus freien Stücken. Selbst König Lothar konnte sie nicht von ihrem Willen abbringen.«
Er antwortete nicht. Sein einstiger Entschluss, Judith aus Senlis zu befreien, war von so vielen Gefühlen begleitet gewesen – der Hoffnung, die Leere in seinem Leben zu vertreiben, Heldenmut, den er nicht länger auf dem Schlachtfeld ausleben wollte, Begierde, diese starre Frau in seiner Schuld zu haben. Jetzt war die Gewissheit, was er tun musste, frei von allem Stolz und allen ängsten: Judith hatte nicht gezögert, ihm zu folgen. Also würde auch er sie nicht im Stich lassen.
»Bleib hier!«, rief Johanna.
Er sah sie nicht an, als er das Pferd bestieg, und drehte sich nicht um, als er jenen Weg zurücknahm, auf dem er eben noch gekommen war.
»Fahrt zurück nach Trier und wartet dort!«, war der letzte Befehl, den er gab.
Die Angst schnürte Judiths Kehle zu. Es war ein so übermächtiges Gefühl, dass sie wenigstens nicht daran denken musste, wie durstig sie war. Vorhin hatte sie ein paar Schlucke Wasser aus einem seichten Bächlein genommen, doch sie hatten so nach Erde geschmeckt, dass sie sie rasch wieder ausgespien hatte.
Als sie sich über den Bach gebeugt und sich ihr Antlitz in der matten Oberfläche gespiegelt hatte, war ihr der Gedanke gekommen, wie tief sie gesunken war. Als Königstochter war sie geboren, zur Königin gekrönt – und nun schöpfte sie Wasser wie eine Bauersfrau. Manchmal hatten sie solche Gedanken auch in den Tagen der Flucht begleitet, da sie, anfangs noch in Männerkleidern, später zwar ihrem Geschlechte angemessen, aber ärmlich gekleidet, durch die Lande geritten war. Doch damals war derlei Zweifel rasch wieder verflogen, hatte jenem Kampfgeist Platz gemacht, mit dem sie um ihr Leben und ihre Freiheit rang. Jetzt waren es nicht
ihr
Leben und
ihre
Freiheit, die auf dem Spiel standen – und sie konnte sich der Versuchung nicht erwehren, zumindest darüber nachzudenken: dass es vielleicht besser gewesen wäre, an Lothars Hof zu bleiben. Dass sie immer noch umkehren, bei ihm Zuflucht finden und Balduin seinem Schicksal überlassen könnte.
Blätter, vom mürrischen Wind hinweggefegt, fielen auf das Bächlein, kräuselten seine Oberfläche und verzerrten ihr Spiegelbild.
Nie und nimmer, ging es ihr durch den Kopf.
Nicht mühsam musste sie sich diese Entscheidung abringen, auf keine anerzogenen Regeln von Ehre und Anstand zurückgreifen; sie kam wie von selbst, verband sich mit einem Gefühl von Treue und Zuneigung für Balduin, das sie bisher nicht gekannthatte und das sie wärmte im rauen Herbstwind. Sie wusste nicht, wann sie zuletzt so einsam gewesen war wie nun, da sie sich schließlich vom Bächlein erhob, wieder das Pferd bestieg und es durch die dicht stehenden Bäume lenkte – und wann sie sich trotz allem nicht alleingelassen auf dieser Welt gefühlt hatte.
Sie lenkte das Pferd westwärts und überließ es dann ihm, sich sicheren Tritt zu suchen. Als die Nacht zu schwarz wurde, um noch irgendetwas zu erkennen, hielt sie erneut an und rastete so lange, bis die Eiseskälte sie vom Boden verscheuchte. Sie war froh, wieder auf dem Pferd zu sitzen, denn obwohl ihr vom hastigen Ritt sämtliche Glieder schmerzten, ging vom Leib des Tieres doch ein wenig Wärme aus. Es war immer noch dunkel, als sie weiterritt, und sie überlegte, wie viele Trolle und Waldgeister sie wohl dabei begafften, vielleicht sogar Fallen stellten, um sie zu Fall zu bringen. Selbst fromme Priester glaubten, dass es diese gäbe – desgleichen wie wundersame und zugleich verwunschene Wesen, halb Mensch und halb Tier, die kaum einer je erblickt hatte. Wann immer Judith in Büchern davon gelesen hatte, fiel es ihr schwer, sich deren Existenz vorzustellen. Doch nun war ihr, als würden sie unsichtbare Heerscharen verfolgen – verfluchte Schattenwesen, die sich nicht sorglos unter Menschen mischen konnten, sondern am Rande der Welt lebten.
Im Morgengrauen hörte sie erstmals wieder menschliche Laute, Stimmen von Männern, die vor allem Flüche murrten. Zuerst war sie erleichtert, dass sie ihr Ziel erreicht und zu der Truppe ihres Vaters aufgeschlossen hatte – ebenso gut, das wusste sie, hätte sie sie auch verfehlen können, auch wenn sie versucht hatte, nie zu weit von der Hauptstraße weg zu geraten. Doch dann senkte sich
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